Günther Oettinger geht nach Brüssel: "Er hat die falschen Freunde"

Pizza-Affäre, Filbinger-Eklat, Teesieb-Brillen-Fotos - und jetzt auch noch EU-Kommissar? Die Karriere des baden-württembergischen Ministerpräsidenten.

Günther Oettinger ist viel geselliger und lockerer als es den Anschein hat - manchmal zu gesellig. Bild: dpa

Unionskollegen, die sich um das Profil des schwäbischen Politikers sorgen, bemerkten die wunderbare Wandlung sofort. Schnitzte sich bisher bei unbequemen Themen in Günther Oettingers Miene stets ein starres Lächeln, das empirische Kulturwissenschaftler von den Holzmasken der schwäbisch-alemannischen Fasnet kennen, war es jetzt plötzlich verschwunden. Wie weggebrüsselt.

Wo immer er seit der "Sensation" auftritt, wirkt der EU-Kommissar in spe befreit, gelöst und fast ein bissle entrückt. "Der Günther ist sehr erleichtert", diagnostizieren viele Parteifreunde. Und atmen selbst kräftig durch. Der Günther ist sogar so gut drauf, dass er Witze reißt: "Wenn irgendjemand argwöhnt, dies sei eine Abschiebung, kann ich nur darüber lachen."

15. Oktober 1953: Geboren in Stuttgart, aufgewachsen in Ditzingen. Abitur in Korntal-Münchingen, Studium der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen.

21. April 2005: Oettinger wird vom Landtag mit den Stimmen von CDU und FDP zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg gewählt. Zuvor war "Ö", wie sie ihn im Südwesten nennen, Fraktionsvorsitzender im Landtag.

24. Oktober 2009: Kanzlerin Angela Merkel kündigt an, dass Oettinger für den Posten des deutschen EU-Kommissars vorgesehen ist. Er tritt als Ministerpräsident zurück. Neuer Ministerpräsident wird der bisherige Fraktionsvorsitzende in Baden-Württemberg, Stefan Mappus, 43. Baden-Württembergs Justizminister Ulrich Goll (FDP) nennt ihn "Mappi-Schnappi, das kleine Krokodil".

Oettingers Sinn für Humor ist in Brüssel noch nicht ganz angekommen. Allen Ernstes stellt Nochkommissar Günter Verheugen in der EU-Hauptstadt "blankes Entsetzen" über die Personalentscheidung der Kanzlerin fest. Seine Kollegen würden sie als reine "parteiinterne Entsorgungsaktion" sehen. Und immer mehr hochrangige EU-Parlamentarier äußern gar Zweifel, ob Oettinger überhaupt in Brüssel ankommen wird. Wenn es gravierende Bedenken gegen einen Kandidaten gebe, "ist das Parlament bereit, die Kommission abzulehnen", orakelt selbst die stellvertretende EU-Parlamentspräsidentin Silvana Koch-Mehrin, FDP, in düsterer Divergenz zur neuen schwarz-gelben Herrlichkeit in Berlin.

Derartige Unkenrufe schmerzen die CDU-Familie im Musterländle. Ihre schwarzen Granden stehen noch immer staunend vor dem Wunder von Berlin. Die meisten hatten geahnt, dass Oettingers Tage als Ministerpräsident gezählt sein würden, die Signale aus der Bundespartei waren in den vergangenen Wochen immer deutlicher geworden.

Absturz auf 34,4 Prozent bei der Bundestagswahl, und das im CDU-Stammland Südwest, Oettingers eigene Umfragewerte unterirdisch schlecht, das Porsche-Desaster, sein Mehrwertsteuervorstoß vor der Wahl, weitere Störfeuer, traumwandlerisch sicher gegen die Merkel-Linie, und - ja, natürlich - der unvergessene und unvergessliche Fehltritt im Frühjahr 2007, als er den ehemaligen NS-Marinerichter Hans Filbinger posthum zum Widerstandskämpfer erklärte: Die Giftliste war lang geworden. Zu lang, eineinhalb Jahre vor der Landtagswahl.

Wie aber in aller Welt, rätselten die schwarzen Granden in Stuttgart, sollte das "Problem" Oettinger denn gelöst werden, ohne Brutus-Stoß, ohne bleibenden Schaden fürs Ländle? Dann sprach sie, Dea ex Machina, in Berlin das erlösende Machtwort: Der Günther geht nach Brüssel. Klar, wer sonst? Roland Koch, der hessische Ministerpräsident? Oder gar Ursula von der Leyen, eine bekannte Bundespolitikerin, wie EU-Präsident José Manuel Barroso sie sich gewünscht hat? Nein, ein "politisches Schwergewicht" musste es sein. Und das ist es jetzt ja auch, wie Angela Merkel im Brustton tiefer Überzeugung verkündete.

Da wunderte sich die Republik. Denn von Politchronisten überliefert waren bis dahin vorrangig kritische bis abfällige Merkel-Bemerkungen über Oettinger. Oder vergiftete Lobhudeleien. Was keineswegs nur daran liegt, dass er ihr beim Bundesparteitag in Stuttgart Ende 2008 ausgerechnet einen Bausatz von Dübel-Fischer geschenkt hatte. Das Verhältnis galt seit Langem als irreparabel. Doch bei der absoluten Mehrheit der Ländle-CDU brach frenetischer Jubel aus - ob des "genialen Schachzugs" der Kanzlerin.

Günther Oettinger büffelt bald Fachenglisch. Bestens gerüstet will er sein für das Brüsseler XL-Ressort Wirtschaft, das er mit dem Selbstbewusstsein und dem neuen Lachen eines "politischen Schwergewichts" anstrebt. Unwahrscheinlich, dass Mitglieder des EU-Parlaments vor seiner Anhörung bei Porsche-Leuten ein Empfehlungsschreiben anfordern werden. Die sind bei der Frage, wie effizient und präsent der Ministerpräsident im Machtpoker mit VW und Christian Wulff gewesen sei, in 4,7 Sekunden von null auf hundert. Und weg. Oettinger hat halt andere Stärken. Zum Beispiel kann er, und nur er, ad hoc und freihändig den Schraubenbestand oder die durchschnittliche Toilettenfehlzeit von Arbeitnehmern beim 12-Mann-Handwerksbetrieb Häberle & Pfleiderer herbeten. Eine Kernkompetenz. Denn Baden-Württemberg ist eine wichtige europäische Provinz. Und Oettinger wird auch in Brüssel "Baden-Württemberger bleiben". Das wird die EU-Parlamentarier entsetzlich freuen.

An seiner Sachkenntnis zweifelt kaum einer. Und dennoch, Günther Oettinger ist wahrscheinlich der deutsche Politiker, der am meisten verkannt wird. Dass im wilden Südwesten keiner schneller spricht als er, dürfte nördlich von Heilbronn zwar bekannt sein; weniger aber seine rhetorische Raffinesse. Die semantische Grobschlächtigkeit seiner frühen Phase, als er die Frauen-Union der CDU noch mit der allzu schwulstigen Metapher "Krampfadergeschwader" würdigte, ist längst überwunden. Inzwischen formuliert er weitaus sensibler. Besonders gute Freunde lässt er bei rauschenden Feiern schon mal mit dem schlanken Titel "baden-württembergischer Meister des Seitensprungs" hochleben. Erst vor Kurzem, in einer inspirierenden Abendrunde mit Journalisten in Stuttgarter Halbhöhenlage, brach endgültig der Poet in ihm durch. Auf die Porsche-kritische Berichterstattung angesprochen, hauchte es aus ihm, metrisch gewandt: "Das ist die Erektion der Redaktion."

Völlig zu Unrecht wird der Miterfinder der "Schuldenbremse" als Spaßstopper und nüchterner Technokrat gesehen. In Wirklichkeit ist Günther Oettinger ein ungemein geselliger und lockerer Mensch. Manchmal vielleicht zu gesellig. Ein Gespräch in Oettingers Heimat nahe Stuttgart: "Der Günther isch ein großes politisches Talent", schwärmt ein Gerlinger Unternehmer, der mit ihm schon in JU-Zeiten unterwegs war. "Aber er hat die falschen Freunde."

Pikant, dass Oettinger noch vor wenigen Jahren zur opulenten US-Farm von Klaus Birkel reiste - jenem schwäbischen Nudelkönig, dem das Land in den 90er-Jahren zwölf Millionen Mark Schadenersatz gezahlt hatte, obwohl seine Teigwaren nachweislich mit ekliger Eierpansche versaut waren. Die Ermittlerbeweise dafür hält die Landesregierung bis heute unter Verschluss.

Längst Geschichte schien jene "Pizza"-Affäre zu sein, die Oettinger in den 90er-Jahren bundesweit eine eher unerwünschte Bekanntheit beschert hatte. Mafia-Fahnder ermittelten damals gegen einen kalabresischen Wirt wegen des Verdachts der Geldwäsche und des Kokainhandels. Ein enger Freund Oettingers, der einige tausend Mark an die CDU gespendet hatte. Obwohl der Wirt 1999 in Italien freigesprochen wurde, steht sein Name in einem ganz und gar unpoetischen Schrifttum: im aktuellen, Ende 2008 verfassten Mafia-Bericht des deutschen Bundeskriminalamts (BKA) - als mutmaßliches Mitglied eines Clans der kalabresischen Mafia-Organisation Ndrangheta. Vor vier Jahren, so geht aus den vertraulichen Akten hervor, schauten Ermittler diskret zu, als der Gastronom sich nahe Stuttgart mit einem sizilianischen Mitglied der ehrenwerten Gesellschaft getroffen haben soll. "Vorbeugende Bekämpfung", nennt dies ein hochrangiger Fahnder aus dem Bereich organisierte Kriminalität.

Oettinger betont stets mit Nachdruck, dass er seit langem keinerlei Kontakt mehr zu dem kalabresischen Wirt habe. Fatal nur, dass einige gute Freunde des CDU-Politikers nach wie vor diese Beziehung lustig weiterpflegen, darunter ein EU-Abgeordneter seiner Partei. Auch bei Festen der Tübinger "Ulmia" greift man mitunter gerne auf die kulinarischen Dienste des Kalabresen zurück - ausgerechnet in Oettingers eigener Studentenverbindung, wo er seit Langem seine Geselligkeit so gerne ausgelassen pflegt, schon mal die erste Strophe des Deutschlandliedes mitschmetterte und wo man Jubilaren zuweilen eine Panzerfahrt schenkt.

Höhergestellte Vertreter der CDU-Familie wissen um das glückliche Händchen, das Oettinger in seiner Freundschaftspflege hat. Auch in Berlin. Das Wort von der "tickenden Zeitbombe" stammt aus diesen Kreisen. Doch Oettinger direkt darauf anzusprechen verbot wohl der familiäre Sinn fürs Diskrete.

Der designierte EU-Kommissar wittert bei diesem Thema gern eine "Rufmordkampagne" gegen sich. Womit er natürlich die Medienhyänen meint. Nicht etwa Ermittler, die zuweilen fassungslos den Kopf schütteln: Fast zur selben Stunde, als am Samstag vergangener Woche Oettingers "Beförderung" bekannt wird, betritt jener kalabresische Gastronom, der im BKA-Papier so unvorteilhaft genannt wird, das Flughafengebäude von Bari. Seine Ferienanlage liegt 260 Kilometer südlich, am Ionischen Meer. Lachend geht er auf einen Mann zu und begrüßt ihn herzlich. Man ist vertraut, man kennt sich - aus Stuttgart. Der Gast ist ein langjähriger Freund von Günther Oettinger.

Rufmord? Auf diesem heiklen Terrain hat Oettinger Kernkompetenz. Jedenfalls seine direkte politische Entourage. Mit leichtem Schaudern erinnern sich Journalisten noch heute daran, welche Investigationen ihnen aus seinem Umfeld ans Herz gelegt wurden, als im Herbst 2004 sein "sachlicher und fairer Wettbewerb" mit Annette Schavan um die Teufel-Nachfolge lief: Ob man nicht mal recherchieren wolle, mit wem Frau Schavan im Hotel Tannenhof in Isny saunieren war? Das erwartete Ergebnis wurde gleich mitgeliefert. Politikstil auf höchstem Niveau.

Ironie des Schicksals: Ausgerechnet sein "Engagement" in Brüssel hat Oettinger einmal fast ins politische Aus befördert. Die Tage im Spätherbst 2007 waren schon trist genug, als es selbst für den fettnapferfahrenen Ministerpräsidenten ganz dick kam. Zunächst hatte er das Ende seiner Ehe mit Inken auf dem Boulevard ausgerufen, worauf die ihm ansonsten freundlich geneigte Landespresse in Baden-Württemberg ihm fast mit Liebesentzug drohte. Und dann veröffentlichte Bild am Sonntag auch noch jenes legendär gewordene Fotodokument von der Brüsseler Spitzen-Präsentation: Oettinger mit Teesiebbrille auf der Nase und offenbar auch sonst in hochprozentiger Verfassung, zur vorgerückten Stunde in der "Schwarzwaldstube" der baden-württembergischen Landesvertretung in Brüssel.

Jetzt ist Günther Oettinger unser Mann in Brüssel.

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