San Gimignano: Das Verschwinden der Glühwürmchen

Der italienische Ort in der Toskana ist ein Mythos. Doch je mehr er dazu wurde, je mehr er gepflegt und verschönert wurde, desto mehr ist sein Zauber endgültig verloren gegangen

San Gimignano: Manhattan des Mittelalters Bild: dpa

Mythen entstehen und vergehen, sie werden geboren, oft im Verborgenen, wachsen heran, langsam und von fast niemandem beachtet, am Ende von Trampelpfaden, im Unwegsamen, zwischen Fischerhütten und Dünen oder aber auf einem grünen Hügel, und dann plötzlich, unvermittelt, werden sie zu Träumen, erlangen sie für Millionen von Menschen Bedeutung. San Gimignano ist ein solcher Mythos, ein kleiner Ort in der Toskana, der zum Utopos, zum Nicht-Ort geworden ist, zu einem Ding, von welchem die Vorstellung mittlerweile wirklicher ist als das Ding selbst.

San Gimignano, das ist eine Straße, die sich durch das Grün irgendwo zwischen Volterra und Siena windet, das sind die Fahrradfahrer, die an einem Sonntag im Herbst ihren Stolz die Kurven hinauf und hinunter wuchten, das sind die Schweizer, die Deutschen, die Franzosen, Japaner und Italiener, die ihren Wagen und Reisebussen entsteigen und sich aufmachen, das Manhattan des Mittelalters, das sie in ihrem Kopf mitgebracht haben, mit jenem Ort zu vergleichen, der sich San Gimignano nennt. Aber San Gimignano ist natürlich nicht dieser Ort, längst nicht mehr, gerade weil er mittlerweile perfekt restauriert, von automatischen Parkinseln umgeben und mit viersprachigen Hinweisschildern bestückt ist.

Je mehr San Gimignano als das Juwel erkannt worden ist, das es einmal war, je mehr es gepflegt und verschönert wurde, desto mehr hat es aufgehört, dieses Juwel zu sein, desto mehr ist diese winzige Stadt für uns alle verloren gegangen. Alle Gebäude stehen noch, der Palazzo del Podestà, der Palazzo del Popolo, die Burgruine, nur San Gimignano ist nicht mehr da, verschwunden, unsichtbar geworden hinter seinem eigenen Bild, das in Tokio in der U-Bahn-Station, in Harvard über dem Farbkopierer und in Hamburg als Fotografie im Besprechungsraum einer Großbank an der Wand prangt.

San Gimignano, Release 1.0, habe ich noch gesehen, nein, erlebt: Ich erinnere mich an unglaublich heiße Nachmittage irgendwann in den Siebzigern, an das nachdenkliche, noch junge Gesicht von Onkel Carlo, an seinen kleinen weißen Fiat 128. Ich bin hier gewesen, als San Gimignano noch nicht unsichtbar war. Ich weiß noch, dass Wagen mitten auf der Piazza della Cisterna standen, ein paar junge Frauen und Männer gerade aus einem Kino kamen, und zwei betrunkene amerikanische Studenten Gitarre spielten und dazu laut sangen. Ich erinnere mich an streunende Hunde, an kleine, graue Feldmäuse, an die von den Autokolonnen verstopfte Ringstraße, an die großen Wahlplakate der Democrazia Cristiana und an die italienischen Mädchen, die schon damals viel zu klug waren, um in diesem Land glücklich zu werden.

Sicher, San Gimignano 1.0 lag in einem anderen, ärmeren, brutaleren, lebendigeren Italien, in einem Italien, das korrupt, von den Amerikanern kontrolliert und entwürdigt, von der Mafia vergewaltigt und zu einer Hälfte noch Agrarland war. Doch damals, als alles schlechter war, als es nur zwei Fernsehprogramme gab und mittags um eins alle Wohnzimmer und Straßen von derselben Stimme widerhallten, damals, als die Squadra Azzurra gegen Brasilien verlor, die Italiener für die Scheidung stimmten, die Geheimdienste die Roten Brigaden neu erfanden und Andreotti in wechselnden Verkleidungen das Land ruinierte, war San Gimignano noch ein Ort, den es tatsächlich gab.

Touristen in San Gimignano Bild: kramer1/pixelio.de

Wie gesagt, dann wurde alles besser, wir Italiener wurden reicher, die Straßen weniger holprig, Paolo Rossi und die anderen endlich Weltmeister, die Wagen größer und ausländischer und mein Onkel Carlo, der Bauingenieur, zweifacher Vater und älter. Und San Gimignano wurde nach und nach zu dem, was es heute ist: zu einem kalten Ort, an welchem der Profit das Leben der Menschen bestimmt, sogar das derjenigen, die sich nicht um ihn scheren. Profit ist gut, natürlich, auch in San Gimignano, und es ist gut, an der Kasse nicht warten zu müssen; es ist gut, dass es Parkplätze gibt, und es ist gut, dass die Fremdenführer die Fresken der Collegiata Santa Maria Assunta auch auf Deutsch und Englisch rühmen können.

Alles ist moderner, effizienter, schneller, einträglicher geworden, und alle profitieren davon, nur … nur, dass etwas verloren gegangen ist, etwas Großes, Wichtiges, etwas, dessen wir uns damals nicht bewusst waren. Nicht nur meine Kindheit und Onkel Carlos Jugend, nein, etwas viel Kostbareres ist verblüht, etwas, das keinen Namen hat, kein Gewicht, keinen Wert und keine Farbe, jetzt aber fehlt und die Herzen mit dem Gewicht seines Verlorenseins beschwert. In San Gimignano, in ganz Italien, vielleicht überall.

Der Einzige, der es schon damals, 1975, erahnt hat, das Heraufziehen dieser neuen Zeit, in der die Macht kein Gesicht, aber umso größere Stärke besitzt, war Pier Paolo Pasolini, und nicht zuletzt deshalb ist er wohl getötet worden. Pasolini schrieb damals: Der Faschismus hat der Seele des italienischen Volkes nichts anhaben können, er hat sie noch nicht einmal angeritzt. Der neue „Faschismus“, die neue Macht aber, hat sie durch ihre Informations- und Kommunikationsmedien (vor allem durch das Fernsehen) nicht nur verletzt, sondern zerrissen, vergewaltigt und für immer hässlich werden lassen.

Blick vom 54m hohen Torre Grossa auf den Piazza della Cisterna Bild: Jens Bredehorn/pixelio.de

Gab es damals in San Gimignano noch die Glühwürmchen, von deren Verschwinden Pasolini so oft gesprochen hat? Ich erinnere mich nicht. Damals, das ist mittlerweile fast unvorstellbar geworden. Heute, an diesem Tag im Jahre 2009, sitze ich mit Julie, einer Schweizer Fotografin, auf der Treppe vor der Zisterne, nach der die Piazza benannt ist, und sehe den Menschen zu. Vor mir stehen zwei Deutsche, ein junges Paar, zwei Rennräder, die ein Vermögen gekostet haben, und ihr kühler Blick hinauf zum Blau, das über der Piazza leuchtet. Das ist kein Fotoshooting, es sieht nur so aus. Neben mir sitzen zwei italienische Fremdenführer, sie studieren eigentlich Medizin und sind müde. Sie lachen kurz, dann nehmen sie die kleinen Schilder mit der Nummer ihrer Gruppe wieder auf und gehen. Während links von uns ein amerikanischer Geschäftsmann seinem Freund erklärt, warum er seine Loge in Atlanta gekündigt und dem Trainer der Hawks seine Meinung gesagt hat.

Auch wir stehen auf. Die Gebäude sehen uns an, die Türme, die Hochhäuser des Mittelalters, die steinernen Testamente der ehemals so mächtigen Salvucci, der vor langer Zeit schon gestorbenen Ardinghelli. Mythen entstehen und vergehen. San Gimignano, dieser winzige, wundervolle Ort, ist da und doch nicht da, erwartet uns und bleibt uns doch für immer verschlossen. Vielleicht deshalb, weil wir selbst nicht mehr da sind.

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