Kongress des Grundschulverbandes: "Schülern und Lehrern mehr vertrauen"

Früher schränkte die Politik die Arbeit der Lehrer durch Noten und Selektionsdruck ein. Jetzt geschieht dies auch durch genaue Vorgaben, wie sie ihren Unterricht zu halten haben.

Die Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern ist am wichtigsten für ein gelungenes Lernen - hier eine erste Klasse in Tübingen beim Englischuntericht. Bild: dpa

Er findet nur alle 10 Jahre statt, der Kongress des Grundschulverbandes. Und er steht stets vor einer schwer lösbaren Aufgabe. Man erwartet von ihm, dass er die Politik erreicht, die am besten auf grobe und schnell verhandelbare Begrifflichkeiten reagiert, auf Schlagworte. Aber der Verband muss auch die Grundschullehrer vertreten, jene Gruppe also, die mit pädagogischem Feingefühl versucht, "allen Kindern gerecht zu werden" (so das Motto des Kongresses). Das kommt aber schwer zusammen, es lässt viele Pädagogen fast verzweifeln. Deshalb klagte die Kasseler Grundschulprofessorin Friederike Heinzel wohl auch: "Schulentwicklung von oben - das funktioniert nicht."

Die deutsche Schule ist eine Selektionsschule. Sie ist in höchstem Maße ungerecht, sie beraubt viele Kinder ihrer Chancen, sie verstärkt Benachteiligungen, statt sie auszugleichen. Das steht nicht nur regelmäßig in den OECD-Berichten, die Lehrer wissen und kritisieren das seit langem. Warum hat sich dann Schule hier nicht bewegt? Weil die Maßnahmen-Schlagworte der Bildungspolitiker selten dem gerecht werden, was sie meinen auszusagen.

Am gravierendsten ist dies bei der gegliederten Schule: Mit drei Schularten, so sagt die Politik noch immer, werde man dem Schüler und seinem Leistungsvermögen besser gerecht, als wenn es nur eine Schule für alle gäbe. Klingt für den Bürger auf den ersten Blick absolut logisch. Wenn man jedoch genauer hinschaut, dann sieht man, wie zerstörerisch für die Schüler das Benoten, Sitzenlassen, Abschulen ist. Kurz, wie sehr der Auslesezwang für die herrschende Schulstruktur das Lernen der Kinder behindert, anstatt es zu fördern. Und wie unsinnig er ist, weil er jene Bildungsversager erst produziert, die wir so wortreich beklagen.

Nirgendwo ist der feine Blick wichtiger als in der Schule, nirgendwo ist die sensible Begegnung zwischen Lehrer und Kind entscheidender - aber genau dies wird für Pädagogen immer schwerer. Haben sich Begriffe, die man braucht, um die Notwendigkeit des pädagogischen Umdenkens deutlich zu machen, endlich in die Öffentlichkeit gekämpft, so mutieren sie schon zu unsinnigen Worthülsen. "Individueller Unterricht" beispielsweise oder "selbständiges Lernen". Eine völlig falsche, ja fatale Entwicklung. Denn aus dem wichtigen individuellen Lernen wird flugs eine Art Vereinzelungsprogramm.

Man lässt nun nicht selten jedes Kind mit seinem eigenen, ihm maßgeschneiderten Lernprogramm alleine sitzen und arbeiten - und hofft sogar darauf, dass Schüler sich wichtige Lerninhalte selber beibringen. So war das nie gemeint. Aber Gesellschaft und Politik fordern es ein-- und verhindern damit guten Unterricht. Unterricht, bei dem es gelingt, in der Gemeinschaft jedem Kind gerecht zu werden und, vor allen Dingen, durch die Gemeinschaft! Individuelle Unterrichtsformen - ja! Aber als Sammlung von Methoden in einem Rucksack, aus dem Lehrer mit pädagogischem Gespür wählen können - und nicht als starres Unterrichtsprinzip.

Spürbar war diese Zerrissenheit auch beim Kongress der Grundschullehrer. Die Eröffnungsrede von Horst Bartnitzky, ebenso wie die acht Forderungen des Grundschulverbandes - sie sind ein Aufruf, eher ein Aufschrei, was Schule braucht. Eigentlich nur der Wunsch: Lasst uns endlich unsere Kinder gemeinsam unterrichten, zwingt uns nicht, ständig zu beurteilen, sodass es nicht allein aufgrund der Schulstruktur schon zu Ungerechtigkeit und Beschämung kommt - das mit dem Lernen, das kriegen wir dann schon hin!

Der Kongress bewies, wie gut wir es hinkriegen. Workshops, in denen der Detailreichtum, das Einfühlen in jedes Kind, die Feinheiten ihren Platz haben. Jeder Lehrer ging bereichert für seinen Unterricht nach Hause. Wer außer einer Erstklasslehrerin weiß schon, wie schwierig und feingliedrig der Schreiblernprozess ist? Dass es beim flüssigen Schönschreiben eines b und d eben wichtig ist, in welcher Richtung die kleinen Bäuchlein geschrieben werden - ein Kind achtet auf so etwas nicht. Wem ist schon bewusst, dass es die ganz kleinen Momente in der Kommunikation zwischen Schüler und Lehrer sind, welche entscheidend für die Lernbereitschaft eines Kindes sind oder den Zugang zu einem Inhalt erst ermöglichen?

Das Ausschlaggebende in der Klasse ist nicht das Arbeitsblatt oder das Mathelernprogramm auf dem Computer, sondern es liegt im sehr genauen Wahrnehmen, im Geachtet-Werden. Hier ist keine Methode, kein Inhalt, sondern der Lehrer der entscheidende Faktor - weil der Lehrer dem Kind begegnet und den Lernprozess arrangiert. Aber anstatt dem Lehrer Raum, Zeit und pädagogische Freiheit zu geben für seine individuelle Arbeit, wird er beständig genötigt, diese zu konterkarieren. Früher geschah dies nur durch Noten und Selektion, jetzt auch noch durch Vorgaben, wie er seinen Unterricht zu halten hat.

Der Grundschulverband vergab erst zum zweiten Mal den Erwin-Schwartz-Preis. Der Pädagogikprofessor Richard Meier, der ihn für seinen herausragenden Einsatz für Schule und Kinder bekam, vermochte das Wesen des Lernens in wenigen Sätzen auszudrücken: Es sei ein Unding, Lernprozesse von außen steuern zu wollen. "Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft den Kindern und den Lehrern auf Dauer Vertrauen entgegenbringt", sagte Meier unter tosendem Applaus. Den Kindern Vertrauen in ihre Lernfähigkeit, den Lehrern dafür, dass sie Lernen in der Gemeinschaft sinnvoll gestalten.

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