Erdrutsch in Nachterstedt: Leben nach dem Loch

In der Nacht zum 18. Juli reißt ein Erdrutsch drei Menschen und zwei Häuser in die Tiefe. Die Nachbarschaft trifft sich jetzt im Katastrophenzentrum.

Fassungslose Menschen im Katastrophengebiet: Ein Mann blickt auf die Reste der Siedlung „Am Ring“. Bild: dpa

NACHTERSTEDT taz | Lothar Gareis sitzt im Katastrophenzentrum in Nachterstedt. Er zeigt Fotos von seinem Garten. „Ist alles grad fertig geworden“, sagt er: das Gartenhaus, die Beete, die Fachwerkmühle im Märklinformat. Der Minitrecker hat Holz geladen, Lämpchen leuchten, die Fontaine sprudelt – das hat er alles selbst gebaut. Dann legt er ein anderes Bild auf den Tisch: ein Grillabend auf der Terrasse der Nachbarn. Am Gartentisch sitzt eine Frau mit rundem Gesicht und rotem Haar. Die Terrasse gibt es nicht mehr. Und Ilka liegt unter dem Schutt ihres Hauses; das Haus tief unter der Erde. Oder unter dem See, so genau weiß das niemand.

Gareis trinkt Kaffee. „Schwarzer Kaffee macht schön“, sagt er, und: „Jeder, der schöner ist als ich, ist geschminkt.“ Er ist 71 Jahre alt, ein schlanker Mann. Die Wangen zerfurcht, das Haar weiß, Brillenträger. Seine Hose ist beige, die Jacke ist beige, das Hemd hellgrün. Sein Mitteldeutsch klingt warm und kehlig, unter den Nägeln seiner Finger steckt eine Menge Arbeit. Auf den Bänken neben ihm sitzen seine Nachbarn. Sie hatten alle „Am Ring“ gewohnt, in der Siedlung am Concordiasee. Jetzt stehen ihre Häuser in der „Death Area“, der Todeszone, die niemand mehr betreten darf.

Der Sammelplatz, der Fluchtpunkt der Evakuierten, liegt hinter dem Rathaus. Ein Parkplatz, unter Carports stehen vier Tische und acht Bänke. In der Mitte steht ein Küchenzelt. Es gibt Suppe, Würstchen, Kaffee. Jemand hat Küchenkräuter gebracht, der Gurkensalat ist mit Nachterstedter Dill gewürzt. Zwischen den Anwohnern sitzen Journalisten und schreiben mit; Kameramänner warten auf das nächste gute Bild. Der Bürgermeister grüßt mit Handschlag, die Bürgermeisterin setzt sich dazu. „Die leisten Unwahrscheinliches“, sagt Gareis. Später, nach der Pressekonferenz, essen der Landrat, der Staatssekretär, der Wirtschaftsminister und der Bergbausanierer-Chef Würstchen mit Senf.

Bei dem Erdrutsch am 18. Juli verlieren drei Menschen ihr Leben und 41 Anwohner ihr Zuhause. Erst im September soll ein Gutachten über das Unglück vorliegen. Gestern mussten Untersuchungen an der Bruchkante abgebrochen werden, da aus einem Haus Geräusche gedrungen waren, gesprengt werden soll die Siedlung "Am Ring" am Ufer des Concordiaseesnicht. Das gesamte Seegebiet wurde zum Katastrophengebiet erklärt.

Vor dem Rathaus quillt es aus dem Springbrunnen, der Rasen ist gemäht. Die Häuser sind altrosa, lindgrün, cremeweiß; in den Gärten wachsen Flachs, Johannisbeeren, Kohlrabi. Die Polizisten stehen in der Sonne auf der Treppe vor der Wache. Es ist schwer, sich in dieser Kurortidylle das Loch vorzustellen. Wenn man die Straße ein Stückchen heruntergeht und die Eisenbahnschienen überquert, geht es bergab. Dann sieht man die Absperrung, die Polizisten und Feuerwehrleute.

Oben, neben dem Rathaus, erinnert ein Findling an verschüttete Bergleute. „Glück auf“ steht auf dem Stein, „Glück auf“ heißen die Apotheke und die Grundschule. Die Oberschule nebenan heißt „Schule Seeland“. Das passt, früher war die Stadt von der Grube abhängig, heute vom See, von den Touristen.

Lothar Gareis kennt sich aus mit Bergbau. 1956 war im Harzer Strausberg seine Grube vollgelaufen. Er kletterte 700 Leitermeter nach oben, das Grollen des Wassers hinter sich. Dann krabbelte er als Letzter lebend ins Freie. „Das Einzige, was die machen können, ist, uns alle in einen Bus setzen und wegkarren“, sagt er. Dann auf die Heiztanks schießen und alles abfackeln. Gareis hat nachgerechnet, um die 12.000 Liter Heizöl sind noch in den Häusern. „Wenn die das alles abrutschen lassen, ist der See verseucht.“ Sein Bruder ist Ingenieur, der arbeitet seit achtunddreißig Jahren im Bergbau. „Jeder Fachmann weiß, was hier passiert ist, aber die werden uns nie die Wahrheit sagen.“

Am frühen Samstagmorgen hatte die Nachbarin vor seinem Schlafzimmerfenster geschrien, barfuß, im Nachthemd. Sie hatte ein Geräusch gehört, aus ihrer Haustür geschaut und das Loch gesehen. Hose über, Hemd, Schuhe, Gareis läuft zum Zwinger, lässt den Schäferhund raus. Dann holt er das Motorrad, die weinrote 350er Jawa, ein Originalnachbau von 1963. Er bringt das Auto in Sicherheit, und dann ist auch schon die Polizei da.

Später begegnet ihm der Sohn der Verunglückten „Wo sind meine Eltern“, fragt er. „Du brauchst nicht zu suchen“, sagt Gareis, „das Haus gibt es nicht mehr.“

Am Montag dürfen sie in ihre Häuser zurück. Was soll man retten vom Leben in dreißig Minuten und mit zwei Armen? Wer trägt die Gärten, die Häuser, die Kamine, das Gefühl, wenn man abends im Garten sitzt und grillt? Wer holt die Freunde aus dem Schlamm, mit denen man vor einer Woche noch mit dem Boot gefahren war?

Gareis hatte sich eine Liste geschrieben, damit er bloß nichts vergisst. Er schmeißt Kleider in einen Koffer, rettet zwei Pakete Bettwäsche, weiches Satin mit afrikanischem Muster, noch originalverpackt. Er rafft alles zusammen, „gerabt, gerabt, gerabt“, sagt er und macht ausufernde Bewegungen mit den Armen. Dann ist die Liste weg. Er reißt die Schublade mit den Unterlagen mit den Schienen aus dem Schrank. Dann wirft er alles aus dem Fenster, der Feuerwehrmann sammelt. Seine Aquarien lässt er zurück. Er hatte gar nicht hingeschaut, die Fische brauchen warmes Wasser und waren tagelang nicht versorgt gewesen. Früher, wenn Gareis streiten wollte, hatte er sich vor die Fische gesetzt und die beschimpft.

Sie waren eine Familie gewesen am Ring, ein kleines Dörfchen für sich, das Dorf im Dorf – und Lothar Gareis war ihr Bürgermeister gewesen: der Bürgermeister vom Ring. Einer, der alles kann, alles baut, der hilft, der Witze weiß. „So was wie da unten gibt es nicht zu kaufen“, sagt er, „so wie damals wird es nie wieder.“ Abends hatten sie zusammengesessen, jeder hatte etwas mitgebracht. Sie waren „die da unten am Ring“, sie hatten es ruhig, noch ruhiger als in Nachterstedt. Er entdeckt ein Loch in seiner Jackentasche. Sein Schlüssel fällt fast raus, aber das kann man leicht nähen. „Nee“, sagt er, „schweißen. In Nachterstedt wird alles geschweißt.“

Jetzt wohnt er in einer Ferienwohnung, mit einem Ehepaar vom Ring. Das Schlafzimmer hat er ihnen überlassen, Gareis schläft im Doppelstockbett im Kinderzimmer. Er denkt an ein Häuschen in einer neuen Siedlung, am Rand von Nachterstedt. Dort könnten sie alle zusammen wohnen. Abends, nach sechs, wenn der Hammer fällt, würden sie ein Bierchen trinken, wie immer. „Was ich mir vorgenommen habe, habe ich immer geschafft“, sagt er.

Bis dahin wartet Gareis auf seine Übergangswohnung; drei Zimmer im vierten Stock werden gerade renoviert. „Ein Notbehelf“, sagt Gareis. Er schaut sich die Zimmerchen an. „Als Erstes baue ich mir da eine Werkbank rein“, sagt er, „und oben drüber kommt das Schweißgerät.“ Für die Versicherung muss er eine Liste schreiben von dem, was er besessen hat. Elf Bohrmaschinen, fünf Sägemaschinen, tausend Bohrer, das zählt er denen nicht auf. „Sonst denken die noch, ich bin ein Messie.“ Gareis hat noch seinen Kugelschreiber. Er schraubt ihn auf, darin steckt ein kleinster, ein allerkleinster Schraubendreher.

Gareis denkt sich die Vergangenheit in die Gegenwart und erzählt vom Brennholz, das er im Garten stapelt. „Ich habe Birke und Buche und Kirsche.“ Dann fällt ihm ein, dass er das Holz nicht mehr braucht. Um das Haus herum hatte er in diesem Jahr Pflasterklinker verlegt, ein paar Meter fehlen noch. „Die Steine krieg ich von den Nachbarn“, sagt er. Dann fällt ihm ein, dass er sie nie bekommen wird. „Ich schließe meine Werkstatt nie ab“, sagt er, „am Ring kommt nie was weg.“ Dann fällt ihm ein, dass da jetzt sowieso niemand mehr hinkann. Jeden Tag geht er runter zum Zaun, schaut, ob sein Haus noch steht. „Ich bin zufrieden mit meinem Leben“, sagt Gareis. Man wagt nicht zu fragen, ob er wirklich das Leben nach dem Loch meint.

Am Abend will Gareis Kräuterschnaps kaufen, „Altmeister“, sein Lieblingsschnaps. „Ich trinke selten, dann aber oft und viel.“ Der Supermarkt gegenüber vom Rathaus gibt 30 Prozent auf alles, „aufgrund der hiesigen Ereignisse“. Die Autos auf dem Parkplatz kommen aus der ganzen Region. „Die machen hier ein Riesengeschäft, das spricht sich schnell rum.“

Am nächsten Morgen soll es im Rathaus neue Bettwäsche geben. Ein Möbelhaus ruft zur Pressekonferenz, „Höffner hilft“ steht auf einem Plakat. Die Journalisten setzen sich, der Geschäftsführer bittet die Betroffenen in den Saal. Bevor er „unbürokratisch Hilfe leistet“, Bettwäsche, Gardinen, Waschmaschinen und Einbauküchen verspricht, wünscht er sich eine Schweigeminute. Die Kameras laufen, die Kampagne ist perfekt.

Jeder bekommt einen Warengutschein von 5.000 Euro von dem Möbelhaus. Der Alte zuckt zusammen, sein Mund steht offen. Er nimmt die Brille ab, Tränen, Applaus. „Wir liefern das selbstverständlich nach Hause“, sagt der Geschäftsführer. Irritation, er schiebt ein „oder wohin sie wollen“ nach. Die Gutscheine sind in Verkehrsschildgröße, so sieht man sie auf den Fotos besser. Sie werden mit Handschlag überreicht, wie bei einer Ordensverleihung. Mit Werbung habe das nichts zu tun, sagt der Geschäftsführer. Nein, am liebsten hätten sie in aller Stille geholfen. Die Evakuierten sind trotzdem glücklich. „Sehr hilfreich“, sagt eine, „sehr großzügig“, ein anderer. „Hervorragend. Tolle Veranstaltung“, sagt Gareis.

Die Presse ist immer dabei

Am Nachmittag sitzen die Nachbarn wieder auf dem Parkplatz. In dieser Nacht werden sie abziehen: die Polizei, die Feuerwehr, die Bergwacht. Die Freunde essen Kuchen unterm Wellblech, Käse und Kirsch. „Wie bei euch auf der Terrasse“, sagt Gareis, „nur der Tisch hat nicht so gewackelt.“ Ein Kameramann zoomt auf den Kuchen. „Nicht beim Essen, bitte“, sagt eine. „Nur ein paar Bilder“, sagt der Mann.

Am Abend soll das Katastrophenzentrum geschlossen werden. „Komisch ist das schon“, sagt eine, „war schön, wenn sich hier alle treffen.“ Regen trommelt auf das Dach. Es donnert. „Das zieht vorbei“, sagt Gareis. Das sagen sie immer, wenn es regnet. Der Regen ist ihr Feind, gut möglich, dass er ihre Häuser in ein paar Sekunden in den See rutschen lässt. Gareis zuckt: „Was war das für ein Grollen?“ Alle lauschen. Nur ein Auto.

Einer muss später noch das Wildschwein abziehen, das will er für die Helfer grillen, zum Dank. Dann fällt ihm ein, dass der große Grill für das Schwein noch im Keller steht, mitten in der Todeszone. „Ach“, sagt Gareis, „ich nehm meinen Trecker mit dem Hänger und dann holen wir den schnell.“ Dann überlegen sie, was noch so in den Kellern steht, der Elektrorasenmäher, der Rasentrimmer, der rote Mäher und der grüne, die Sensen.

Die Polizeiwagen stehen in Kolonne vor dem Rathaus, bereit zur Abfahrt. Das Küchenzelt im Hof wird abgebaut, die Bergwacht fährt zurück nach Oberwiesenthal. Bald ist Nachterstedt allein mit dem Loch. Die Glocken läuten. In einer halben Stunde beginnt die Andacht für die Opfer. „Wenn Ilka sechzig wird, dann fahren wir mit dem Boot raus und werfen weiße Rosen in den See“, sagt Gareis. „Nein“, sagt sein Freund, „das machen wir jedes Jahr.“

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