Geburten: Abwärtstrend statt Babyboom

Der Geburtenanstieg in Berlin ist kein Grund zum Jubeln. Eigentlich müsste in Alterssicherung investiert werden, um dem Trend zu begegnen.

Es bleibt bei wenig Gesellschaft für Kinderwagenschiebende. Bild: AP, Thomas Kienzle

Laut Medienberichterstattung in den letzten Tagen ist die Gesellschaft gerettet. Von der düsteren Prognose einer schrumpfenden und überalternden Gesellschaft könne keine Rede sein: Die Berliner kriegen wieder mehr Kinder! Am Montag veröffentlichte das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg die Zahl der Neugeborenen im Jahr 2008. Demnach sind rund 800 Kinder mehr als im Vorjahr auf die Welt gekommen. Die freudige Aufregung aber ist überflüssig - angesichts von mehr als 30.000 Geburten pro Jahr ist die Steigerung lediglich marginal. "Der Jahrhundertabwärtstrend der Geburten seit 1971 ist dadurch nicht aufgehalten", mahnt Harald Michel, Geschäftsführer des Instituts für angewandte Demografie. Die Anzahl der Geburten liege weiterhin ein Drittel unter dem, was für eine stabile Bevölkerung notwendig wäre, erklärt Michel.

Er unterrichtet seit 17 Jahren Demografie an der Humboldt Universität - die einzige Vorlesung Berlins in diesem Bereich. Michel ärgert sich über falsche Presseartikel und verwendet sie, in der Hoffnung auf einen Lerneffekt durch Fehlersuche, für die Klausuren seiner Studenten. "So eine geringe Veränderung der Statistik hat nichts zu bedeuten. Das sind normale Schwankungen", erklärt er, es könnte sogar an der Ungenauigkeit der Statistik liegen. Es gebe aktuell keine Trendrichtung. Interessant sei einzig der Prozess dahinter, "die Herabsenkung der Reproduktionskraft seit über 40 Jahren". In allen modernen Staaten wäre das Phänomen zu beobachten. Grund sei die Emanzipation der Frau, so der Professor. "Die islamische Welt steht nicht vor diesem Problem", meint er.

Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, bewertet die Zahlen dagegen als Erfolg der Familienpolitik Ursula van der Leyens. Vorallem die finanzielle Absicherung durch das Elterngeld würde den Schritt zur Familienplanung vereinfachen, was sich in den Zahlen zeige. Gerade in den neuen Bundesländern fruchtet der Ansatz im Zusammenhang mit besseren Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder. Das Mutterdasein biete für viele Frauen in wirtschaftlichen Krisenregionen eine soziale Position und finanzielle Absicherung über Transferleistungen, heißt es in einer Studie des Berlin-Instituts. Hinzu komme der sogenannte "Nachholeffekt" aus Wendezeiten, erläutert Kröhnert. Durch damalige ökonomische Verunsicherung hätten viele Menschen ihre Familienplanung aufgeschoben. Das durchschittliche Erstgeburtsalter ist von 22 auf 29 Jahre gestiegen. Insgesamt sei der Geburtenanstieg jedoch "ernüchternd gering", resümmiert Kröhnert.

Als "größten Blödsinn" bezeichnet Michel diese Argumente. Die Zahlen lassen weder "eine messbare Verhaltensänderung der Menschen erkennen", noch "einen Erfolg der Familienpolitik". Er plädiert für "Demut". Bevölkerungsentwicklung richte sich eh nicht nach den Beschlüssen der Politik. Diese müsse dem Trend ins Auge blicken und Vorkehrungen der Alterssicherung treffen.

Toska Wiener von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bezeichnet den Anstieg als "positiv für Berlin". Gänzlich erklären kann sie sich die Entwicklung nicht. Eine Analyse der Zahlen stehe auch noch aus, Folgen für die Politik sind demnach nicht absehbar.

Beim Blick in die Zukunft, möchte keiner der Experten einen langfristigen Geburtenanstieg vorhersagen, wenn überhaupt nur noch wenige Jahre. Dann sinkt die Zahl der potenziellen Eltern. Hoffnungsträger sind Migrantinnen und ältere Frauen mit Kinderwunsch - sie sollen für die Stabilität der Bevölkerungszahl sorgen. Die Gesundheits- und Rentenversorgung der älteren Generation ist so nicht gesichert. Es fehlen Eltern für neue Kinder und den alten Eltern eigene Kinder für die Pflege.

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