Stadtgeschichte: Die Furie des Verschwindens

Im hippen Szenebezirk schießen die Geschichtsprojekte zur Erinnerung an die DDR-Zeit nur so aus dem Boden. Das neuste Projekt ist das "Hörmuseum auf der Straße" mit Zeitzeugeninterviews.

Bietet genug Raum für Geschichten: Oberbaumbrücke Bild: ap

Es ist wie überall: Was sich rar macht, wird kostbar und begehrt! In diesem Fall die Geschichte. Im Jahr 20 nach dem Mauerfall ist es chic geworden, Vergangenes wieder ans Licht zu holen und ein wenig rauszuputzen. Im Bezirk Friedrichshain zum Beispiel sprießen zurzeit die Geschichtsprojekte aus dem Boden. Die meisten drehen sich um die "Oberbaum-City" rund um das ehemalige Glühlampenwerk Narva und den Rudolfplatz.

Der ehemalige WDR-Dramaturg Martin Wiebel hat eine "Biographie" des Rudolfkiezes unter dem Titel "East Side Story" veröffentlicht und dann in der Kirche eine Ausstellung über "100 Jahre Alltag rund um den Rudolfplatz" organisiert, sie wurde unter anderem vom "Museum Kreuzberg" mitgetragen. Die dabei gesammelten "Stadtteil- und Betriebsgeschichten" sind jetzt als CD erhältlich: "Berlin Upper East Side".

Aber die "Spurensuche" und das Sammeln von Exponaten geht weiter: Im Haus der Zwingligemeinde tagt regelmäßig eine "Zeitzeugenwerkstatt". Und am 14. August eröffnet der Verein eine weitere Ausstellung in seiner Kirche: "Bevor die Mauer fiel - 40 Jahre Leben mit der Teilung in Friedrichshain und Kreuzberg".

Das Neuste ist nun eine akustische Ausstellung dort in der Nähe, in der es nach 20 Jahren Mauerfall um den einstigen "DDR-Alltag in Friedrichshain" geht. Dieses Projekt der Kreuzberger Medieninitiative "die praxis" wurde staatlich gefördert: vom "Fonds Soziolkultur" und vom Bezirkskulturamt. Im Ergebnis besteht es aus zehn Interviews, die Schüler der Oberschule "Georg Weerth" in der Weinstraße und Kinder der AG "Stadtdetektive" im "Regenbogenhaus" in der Kadiner Straße mit Zeitzeugen führten. Es beginnt mit einem alten Narva-Arbeiter und einem Bäcker im Rudolfkiez und endet mit den Geschichten zweier Dissidentinnen an der Samariterkirche. Die Interviews kann man sich vor Ort anhören: Dort wurden fünf orangene Blechboxen installiert, in denen sich Abspielgeräte befinden, die man per Knopfdruck startet. Das "Hörmuseum auf der Straße" gibt es ebenfalls auf CD.

Wenn mich nicht alles täuscht, dann sind sowohl die Spurensuch- und -sammelaktivitäten des "Vereins Kulturraum Zwinglikirche" als auch der Medieninitiative "die praxis" Westprojekte. Unabhängig davon gibt es noch einen Lokalhistoriker im Kiez: Horst Liewald. Er war der letzte Pressesprecher des Glühlampenwerks, das nach der Wende abgewickelt wurde. Seine Bücher publiziert seitdem das "Nachbarschaftszentrum RuDi" am Rudolfplatz - zusammen mit dem Online-Magazin "Kultstral". Diese veranstalten regelmäßig "Schreibwettbewerbe". Es gibt dort also in puncto Spurensuche eine regelrechte Ost-West-Konkurrenz. Für die Suche kann das nur von Vorteil sein.

Vielleicht gilt aber auch am ehemaligen Grenzübergang Oberbaumbrücke, was der Geschichtensammler Landolf Scherzer an der DDR-Grenze nach Bayern von den Lehrerinnen einer Schule im thüringischen Grenzort Behrungen erfuhr: Es störe sie besonders, so sagten sie, "wenn Leute von drüben die Ortschroniken über hiesige Grenzdörfer schreiben oder Museen über das Leben an der DDR-Grenze gestalten und sich anmaßen, uns die eigene Geschichte erklären zu wollen".

Andererseits hält der Schock der Wende und der Abwicklung bei vielen Ostlern immer noch an. So hatte Professor Wiebel Ende 2008 den ersten und letzten Narva-Betriebsratsvorsitzenden zu einer Veranstaltung in die Zwinglikirche eingeladen. Dieser, Michael Müller, wollte jedoch nicht über seinen jahrelangen Kampf mit der Treuhand um den Erhalt des Glühlampenwerks sprechen. Er ist heute Hausmeister auf dem Narva-Gelände. Ähnlich war es zuvor bei einer Fotoausstellung in Wolfen, die Arbeiterinnen der Filmfabrik Orwo zeigte. Diese mochten sich nicht einmal "ihre" Photos ankucken. Der letzte Betriebsratsvorsitzende dort, Hartmut Sonnenschein, erklärte den Künstlern: "Die wollen davon erst einmal alle noch nichts wissen. Zu tief ist die Enttäuschung über den Arbeitsplatzverlust und das Ganze."

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