Häusliche Gewalt: Türkei muss Schmerzensgeld zahlen

Der Europäische Gerichtshof spricht der Hinterbliebenen einer Ermordeten 30.000 Euro zu. Die Behörden hätten Opfer nicht ausreichend vor dem Täter geschützt.

Das Urteil aus Straßburg wird nicht sofort eine größere Wirkung entfalten. Bild: dpa

ISTANBUL taz | Rund 30.000 Euro muss der türkische Staat einer 37-jährigen Frau in Diyarbakir zahlen, weil er sie und ihre Mutter nicht ausreichend gegen einen gewalttätigen Ex-Ehemann geschützt hat. Mit diesem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg wird auf ein Phänomen aufmerksam gemacht, das in der Türkei weit verbreitet sein dürfte. Frauen, die von ihren Ehemännern, Ex-Ehemännern oder auch anderen männlichen Familienmitgliedern geschlagen werden, werden durch die Polizei fast nie wirksam geschützt.

In dem Fall, den der Europäische Gerichtshof jetzt entschieden hat, war die Situation besonders krass. Der Ex-Ehemann hat nicht nur seine frühere Frau seit 1998 bedroht, sondern auch aus Wut und Rache 2002 die Mutter der Klägerin erschossen. 2008 war er zwar in erster Instanz zu einer lebenslänglichen Haft verurteilt worden, befindet sich aber nach wie vor auf freiem Fuß, weil noch ein Berufungsverfahren anhängig ist. Selbst nach seiner Verurteilung hat er seine Ex-Frau noch wiederholt bedroht.

Die Polizei in der südöstlichen, mehrheitlich von Kurden bewohnten Millionenstadt Diyarbakir sah sich offenbar nicht in der Lage oder war nicht gewillt, die Frau beziehungsweise sie und ihre Mutter zu schützen. Nach Aussagen von Amnesty International, aber auch der kurdischen Frauenorganisation KAMER kommt es sehr häufig vor, dass die Polizei Anzeigen von Frauen wegen häuslicher Gewalt nicht ernst nimmt. Nach Umfragen wird in der Türkei jede dritte Frau in ihrem Leben mindestens einmal von einem männlichen Mitglied des Haushalts geschlagen.

Obwohl durch eine Reform des Strafrechts 2004 die individuellen Rechte der Frau gestärkt wurden, häusliche Gewalt schärfer unter Strafe gestellt wird als zuvor und auch Familienmitglieder, die ihre Schwester oder Tochter im Namen der Ehre ermordet haben, grundsätzlich keine Strafermäßigung mehr bekommen dürfen, hat sich an der gesellschaftlichen Praxis vielerorts bislang wenig geändert.

Allerdings wird über das Thema häusliche Gewalt heute weit offener diskutiert als vor einigen Jahren. Das ist vor allem das Verdienst verschiedener Frauengruppen, die mit Selbsthilfegruppen die staatlichen Defizite auszugleichen versuchen und auch in den großen Medien Gehör finden. Jedoch wird diese Arbeit dadurch erschwert, dass einflussreiche religiöse Kreise, die ein sehr konservatives Familien- und Frauenbild vertreten, immer stärker werden.

Das Urteil aus Straßburg wird deshalb nicht sofort eine größere Wirkung entfalten. Andererseits gibt es seit einigen Jahren von der EU unterstützte Fortbildungskurse für Angehörige der Justizbehörden und der Polizei, die darauf abzielen, auch die Mentalität derer zu verändern, die die Gesetze durchsetzen sollen.

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