Debatte EU und Geopolitik: Die verlogene Unschuld

Die EU hat Europas Nationalismen erfolgreich integriert. Um global mitzuspielen, muss sie aber ihre Wertmaßstäbe überprüfen.

Anfang der 90er-Jahre schien die Europäische Union Prototyp einer zukünftigen Weltpolitik zu sein, einer Politik nach dem viel zitierten "Ende der Geschichte". Doch die Welt hat das leuchtende europäische "Morgen" übersprungen, um in ein "Übermorgen" zu geraten, das bei vielen den unangenehmen Beigeschmack des "Vorgestern" hochkommen lässt.

In den internationalen Beziehungen hat sich die Gewalt zurückgemeldet, alle Formen von Konkurrenz haben an Schärfe zugenommen, der Nationalismus ist zur treibenden Kraft von Prozessen geworden, die den Prinzipien der EU fundamental entgegenstehen. Sämtliche Versuche, diese Prinzipien bei der Erweiterung der Union auch auf Osteuropa anzuwenden, stießen auf erhebliche Schwierigkeiten. Und was soll man zu Territorien sagen, die sich in ihrer politischen Mentalität noch mehr von den Ländern der EU unterscheiden, wie die Länder der ehemaligen Sowjetunion und des Balkans?

Will man überhaupt eine Identität der Europäischen Union festmachen, so bestünde diese in der Tatsache, dass es ihr gelang, die schrecklichen militaristischen und nationalistischen europäischen Traditionen zu überwinden. Dieser Wertmaßstab dient der EU als Rechtfertigung, sich zum Lehrmeister anderer aufzuschwingen. Die EU-Aktivitäten haben aber ein Niveau erreicht, auf dem jede Handlung einen geopolitischen Aspekt erhält - Geopolitik und moralische Wertmaßstäbe passen jedoch schwer zusammen. Beim globalen Wettlauf bleibt eine aktive Zusammenarbeit mit Regimen unumgänglich, die man früher der europäischen Aufmerksamkeit für unwürdig erachtete. Vor dem Hintergrund der Konkurrenz mit Russland sind die Erwärmung der Beziehungen zu Weißrusslands Präsidenten Alexander Lukaschenko und der Flirt mit dem gasreichen, aber totalitären Turkmenien plötzlich business as usual. Diese Art von Politik erlaubt es nicht mehr, seine Weste weiß zu halten.

Hatte die EU früher noch in der UdSSR einen äußeren Feind als konsolidierenden Faktor, der Europa der Notwendigkeit enthob, sich um die eigene Sicherheit zu sorgen - die man dem Seniorpartner, den Vereinigten Staaten, übertragen hatte -, so ist diese große Bedrohung inzwischen verschwunden. Doch das wirtschaftliche Interesse der USA wendet sich immer mehr in Richtung Asien. Der mögliche Verlust des Status des am meisten privilegierten Partners der USA bringt Europa in eine ungewöhnliche Situation. Auf der einen Seite gibt es unter den führenden europäischen Staaten schon lange den Wunsch, eine eigenständige Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Auf der anderen Seite ist kein einziges Mitgliedsland zu einer derartigen Rolle fähig. Gleichzeitig ist man als Gesamtorganisation, die durchaus ein gewaltiges Potenzial hat, nicht in der Lage, sich auf einen einheitlichen Kurs zu einigen. Und die Amerikaner verfügen über genügend Instrumente, solche heimlichen Wünsche der EU zu durchkreuzen.

Um zu einem wirklich handlungsfähigen Subjekt zu werden, muss die Europäische Union die nationalen Souveränitäten überwinden. Doch dazu sind die europäischen Nationen schlicht und einfach nicht bereit, wie der Misserfolg mit der Europäischen Verfassung gezeigt hat. Und es steht auch nicht zu erwarten, dass die EU, die sämtliche Entscheidungen nur unter großen Schwierigkeiten nach dem Prinzip des größten gemeinsamen Nenners findet, ihre Positionen konsolidiert.

Leben "wie in Europa"

Zudem hat die Europäische Union für ihre Attraktivität einen hohen Preis bezahlt. Es wächst die Zahl jener, die so leben wollen "wie in Europa". Die Peripherie des traditionellen Europa strebt mit Ausnahme Russlands nach einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union - und treibt ihre Spielchen mit dem Wunsch der Europäer, als großer Lehrmeister aufzutreten, um sie in ihre Probleme hineinzuziehen. Neben Moldawien und Georgien ist die Ukraine das deutlichste Beispiel hierfür. Dabei ist es mehr als fraglich, ob die EU die Probleme ihrer Nachbarländer lösen kann. Diese haben nicht einmal eine entfernte Aussicht auf Mitgliedschaft. Und ohne diese konkrete Perspektive, das heißt ausschließlich mit der Idee einer wie auch immer gearteten "Entscheidung für Europa", lässt sich in keinem dieser Länder eine Modernisierung im Innern durchziehen.

Wer die "institutionelle" Aufnahme als Land nicht schafft, bemüht sich um persönliche Integration. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Lawine der Migranten aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten nach Europa längst nicht nur ein wirtschaftliches, sondern schon ein konzeptionelles Problem für die Alte Welt darstellt.

Europa hat alle Ziele erreicht, die es sich bei der Integration gesteckt hatte. Aus Erfahrung wissen wir, dass das Fehlen eines "großen Projektes" den Einigungsprozess zum Stocken bringt, ja sogar das innere Gerüst ins Wanken geraten kann. Ein derartiges Projekt wird aller Wahrscheinlichkeit nach einen direkten Bezug zu Russland haben.

Die Zukunft Russlands wird bestimmen, ob sich die Spaltung Europas als Raum, der durch ein gemeinsames kulturelles und historisches Erbe und durch sein Wirtschaftspotenzial verbunden ist, in einem umfassenderen Sinne überwinden lässt. Die Hoffnungen, Russland ließe sich als "Aushilfsspieler" einsetzen, der zwar in das Projekt einbezogen wird, ohne hierbei jedoch eine vollwertige Mitgliedschaft und die entsprechenden Rechte zu haben, hat sich als trügerisch erwiesen. Und über ein anderes neues Projekt ernsthaft zu reden, lohnt sich derzeit nicht.

Russland wird weiterhin zurückblicken, wird den letzten, für ihn unangenehmsten Akt des Dramas "Das XX. Jahrhundert", in dem es eine bittere geopolitische Niederlage hinnehmen musste, neu spielen wollen. Die EU hingegen zieht es vor, sich weiter im Gefühl tiefer Selbstzufriedenheit zu gefallen, obwohl hierfür immer weniger Gründe vorliegen. Doch in einigen Jahren wird sich zeigen, dass im unruhigen 21. Jahrhundert die Europäische Union und Russland separat keine reale Kraft mehr darstellen.

Aus dem Russischen von Bernhard Clasen

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