Nehmt die Kinderbücher ernst

SPRACHSTREIT Sprache ist Musik, Sprache ist Geschichte. Ein Plädoyer für den Gebrauch der Originalfassungen von Jugendbüchern

VON LEA STREISAND

Seit dem Beginn der Kinderbuchdebatte im Dezember häufen sich neben den notwendigen Forderungen nach Überarbeitungen abwertender Begriffe auch die nach Modernisierungen „überholter“ Worte. Literatur erfährt ihren Wert aber nicht nur durch den Inhalt von Geschichten. Die Sprache ist es, die die Figuren lebendig macht. Gerade wenn sie nicht alltäglich ist.

Kurz vor Weihnachten wies in der Welt ein Kollege darauf hin, dass in Kästners „Emil und die Detektive“ aus dem „Depositenkassenvorsteher“ aus Gründen der besseren Verständlichkeit ein „Kassenvorsteher“ geworden sei. Wie bitte? Der Depositenkassenvorsteher gelöscht? Sollen sie beleidigende Worte ersetzen, unbedingt, aber ein Wort von solch absurder Schönheit einfach ausradieren?

Entsetzt ging ich los und kaufte die neueste Ausgabe des Kinderbuchklassikers, um sie mit meiner geerbten von 1960 zu vergleichen. Nichts ist geändert worden, seit meine Eltern den „Emil“ zum ersten Mal lasen. Interpunktion und Rechtschreibung wurde angeglichen, aber ansonsten eins zu eins dasselbe. Der einzige Unterschied ist eine Vorbemerkung: „In diesem Buch wird der Ausdruck ‚Neger‘ verwendet, der gebräuchlich war, als Erich Kästner die Geschichte schrieb. Dem Verlag ist es wichtig, den Text in der Originalversion zur Verfügung zu stellen.“

„Für Kinder sind Anmerkungen unbrauchbar“, sagt Hans-Heino Ewers, Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung in Frankfurt am Main. Auf die Frage, ob es nicht Zeit wäre, endlich kritische Gesamtausgaben von Klassikern der Kinderliteratur herauszugeben, winkt er ab: „Nur fünf Prozent der von Germanisten kanonisierten Literatur liegt in historisch-kritischen Gesamtausgaben vor.“ Bei Kinderbüchern gebe es dafür schlicht keinen Bedarf.

Ewers editiert zurzeit eine Leseausgabe der Werke E. T. A. Hoffmanns. Der Ausdruck „blöde“ zum Beispiel sei im 18. Jahrhundert ein gebräuchliches Synonym für „schüchtern“ gewesen; eine Bedeutung, die sich für heutige Leser aus dem Kontext nicht mehr erschließen lässt, dabei aber bei Formulierungen wie „das blöde Kind“ entscheidend ist für das Verständnis. „Wenn Literatur gelesen werden soll, muss man sie lesbar präsentieren“, sagt der Germanistikprofessor. „Der Text ist nicht unangreifbar.“ Natürlich müssten die Bearbeitungen als solche kenntlich gemacht werden. Seriöse Verlage täten das auch.

Änderungen beleidigender Begriffe befürwortet Ewers ausdrücklich. Gerade von kleinen Kindern könne man keine ironisch-kritische Distanz zum Text erwarten. „Im Vorschul- und frühen Schulalter werden Texte ausschließlich affirmativ rezipiert“, sagt er. Dadurch bestehe die Gefahr, dass das Kind die Begriffe in seinen Sprachgebrauch übernehme. Mit zunehmendem Alter steige zwar die Abstraktionsfähigkeit, das ändert aber nichts daran, dass Kinder aus bikulturellen Familien sich durch solche Begriffe verletzt fühlen würden.

„Kinder lernen durch Nachahmung“, sagt auch Märchen- und Erzählforscherin Kristin Wardetzky. In dem Projekt ErzählZeit, das die ehemalige Professorin für Theaterpädagogik mit ins Leben gerufen hat, gehen gelernte Erzählerinnen und Erzähler in Berliner Schulen und Kitas und erzählen Märchen – frei, nicht nach Textbuch. Dabei werden die Texte jedoch nicht vereinfacht, sondern konsequent eine literarische, vom Alltag unterschiedene poetische Sprache gebraucht.

„Der Abstand der Märchen zur Lebensrealität der Kinder wird bekräftigt durch den Abstand der erzählten Sprache zur Alltagssprache“, sagt Wardetzky. „Sprache ist nicht nur Semantik. Sprache ist Musik, ist Klang und Rhythmus.“

Sprache ist auch erlebte Geschichte. Mit der Vermittlung alter Texte geht immer auch die Vermittlung des Bewusstseins für ein „davor“ einher. Es macht nichts, wenn die Kinder beim Zuhören nicht jedes Wort verstehen.

„Die Lehrer sind deswegen oft unsicher“, erzählt Wardetzky, „die Kinder nehmen das Ungewohnte als selbstverständlich hin.“ Kinder sind es gewohnt, viele Dinge aus der Erwachsenenwelt nicht zu begreifen. Ein Wort wie „Depositenkassenvorsteher“ ist einem heute Achtjährigen genauso fremd wie „Turbo-Kapitalismus“.

Es sind die Erwachsenen, denen solche Unsicherheit Angst macht. Dabei sind es gerade die spannenden unbekannten Wörter, durch die man eine Sprache lernt. Die eigene genauso wie fremde.

Wie viele von uns haben nicht die englischen Vokabeln für Zauberstab, Kessel und Besen durch die Lektüre der englischen Originale von Harry Potter unwiderruflich in ihr Sprachgedächtnis eingebrannt bekommen? Genauso geht es unseren Kindern mit Begriffen wie „Muhme“ und „Gevatter“. Oder „Depositenkassenvorsteher“. Sie sind nur fremd und nicht verletzend wie das N-Wort. Und sie machen Texte zu Kunstwerken.