Lebenswelt Europa: Einmal London und zurück

Fitnesscoach Marcin Wodzyski wollte Polen eigentlich für immer verlassen. Er ging nach Großbritannien. Beides hat ihm Glück gebracht: die Auswanderung und die Rückkehr.

Warschau ist eine internationale Stadt, in der viele Briten und Amerikaner leben. Bild: ap

WARSCHAU taz | Marcin wippt ungeduldig auf den Zehen. Die Muskeln spannen unter dem roten T-Shirt. In den Händen hält er Nordic-Walking-Stöcke. Gleich soll es losgehen: acht Kilometer durch den Park Pole Mokotowskie in der Warschauer Innenstadt. Wie jeden Montag sieben Uhr früh holt der Fitnesscoach Susan Brown von zu Hause ab. "Hi, Marcin, how are you?", grüßt ihn die 42-Jährige. Die schwere Tür fällt hinter ihr ins Schloss. Sie greift nach den Stöcken, prüft, ob sie die Hände auch in die richtigen Schlaufen für rechts und links steckt, und läuft los. "The weather is lovely, isnt it?", fragt sie und schüttelt die braunen Locken in der Morgensonne. "Lovely", bestätigt der 33-Jährige und sprintet hinterher.

Arbeitsmarkt EU: Wie viele Polen genau im Ausland arbeiten, weiß niemand. Schätzungen zufolge sind es ein bis zwei Millionen. Die meisten polnischen Migranten - jeweils rund 400.000 - arbeiten in Großbritannien und Deutschland. Aber auch Irland, Spanien und sogar das kleine Island sind beliebte Zielländer. Inzwischen genießen Polen in fast allen EU-Ländern die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Nur Deutschland und Österreich wollen ihren Arbeitsmarkt noch bis 2011 schützen.

Arbeitsmarkt Polen: Trotz eines Rückkehrprogramms der polnischen Regierung haben seit Herbst letzten Jahren nur 200.000 Polen die Heimreise angetreten. Das im Ausland verdiente Geld wird dringend von den Familien gebraucht: Seit Polens EU-Beitritt vor fünf Jahren überwiesen polnische Arbeitsemigranten rund 18 Milliarden Euro nach Hause.

Vor drei Jahren kam Marcin Wodzynski aus England zurück. Eigentlich hatte er Polen für immer verlassen wollen, auf der Suche nach einem besseren Leben und dem großen Glück. Denn als Polen im Mai 2004 der EU beitrat, ging bei ihm gerade gar nichts. Nach dem Sportstudium fand er keine Stelle als Trainer, musste sich mit Gelegenheitsjobs als Bademeister und Verkäufer bei einem Herrenausstatter durchschlagen. Zehntausende junger Leute aus den neuen Beitrittsländern Ostmitteleuropas packten damals die Koffer. Ihr Ziel: Großbritannien oder Irland. Die beiden EU-Länder öffneten als Erstes ihren Arbeitsmarkt. Für viele Polen, Litauer, Tschechen und Esten ging dort der Traum von Abenteuer und Freiheit in Erfüllung. Auch Marcin machte sich auf den Weg.

Susan kennt die Geschichte schon. Sie lacht gut gelaunt. Nach einer Stunde Morgenlauf kann der Tag beginnen. "Have a nice day!", verabschiedet sie sich von ihrem Coach. Marcin nimmt die Nordic-Walking-Stöcke und verstaut sie im Kofferraum seines Autos. Dort liegen weitere Stöcke, ein paar Bälle, Inlineskater, Squash-Schläger, zwei Motorradhelme und eine Tasche mit Schwimmzeug. Auf dem Handy trägt der durchtrainierte junge Mann den nächsten Termin ein: Mittwoch, 7 Uhr: Susan Brown. "Jetzt habe ich Zeit zum Frühstücken", sagt er. "In zwei Stunden muss ich ins Fitnessstudio nach Warschau-Wola. Dort bin ich mit einem Anwalt zum Training verabredet." Er schlägt das "Lokalna" in der Nähe vor, ein Bistro, das für seine Kanapki - belegte Brötchen - berühmt ist.

Während des Sportstudiums war Marcin schon mit dem Programm "Work and Travel" in die USA gefahren. "Ich hatte nie das Gefühl, dass uns die Welt nicht offenstünde", erzählt er. "Auch als Polen noch nicht in der EU war. Wir kamen immer raus, sogar in kommunistischen Zeiten." Der Gedanke, irgendwann Polen zu verlassen, sei daher nicht übermäßig revolutionär gewesen. Als es mit dem Job nicht klappen wollte, habe er spontan ein Flugticket nach London gekauft. "Für einen Zloty", lacht er, "also 25 Cent. Mit allen Gebühren und Steuern hat der Flug dann 40 Euro gekostet." Er packte sein Sportlehrer-Diplom ein, ein Wörterbuch und ein paar Klamotten. Zunächst habe er ein paar Tage bei einem Freund gewohnt und es genossen, vom Piccadilly Circus aus mit immer neuen Buslinien London zu erkunden. Dann habe er übers Internet Arbeit und Unterkunft gesucht. "Das war nicht besonders schwierig. Ich wollte erst mal das britische Englisch besser verstehen und sprechen. Der Job in einem Pub war genau das Richtige." Zudem konnte er den größten Teil des verdienten Geldes sparen, da Kost und Logis dazugehörten. In seiner Freizeit ging er in Londoner Fitnesscenter und versuchte herauszubekommen, wie er selbst an die Trainerlizenz in Großbritannien kommen könnte. "Auch das war relativ unkompliziert. Ich übersetzte mein Studienbuch und mein Warschauer Diplom. Die Kommission war beeindruckt, und ich bekam sofort die höchste Lizenz als Personal Trainer."

Nach vier Monaten in London war er am Ziel. Auf 80 schriftliche Bewerbungen mit Lebenslauf, Warschauer Diplom und Londoner Trainerlizenz bekam er fünf positive Antworten. "Ich nahm eine Stelle in einem guten Fitnesscenter an und übernahm das Einzeltraining." Doch nach ein paar Monaten erhielt er einen Vertrag, mit dem er sich fester an das Fitnesscenter binden sollte. "Das Problem war die Kündigungsfrist. Sie sollte drei Monate betragen. Das war viel zu lang. Denn wenn in Polen irgendetwas passieren würde, was meine sofortige Rückkehr notwendig machte, hätte ich dem Fitnesscenter drei Monate lang mein Gehalt als Entschädigung für meinen Arbeitsausfall zahlen müssen." Er schüttelt den Kopf: "Das Risiko war mir zu groß". So spontan wie zuvor kaufte er wieder ein Flugticket. Zurück nach Warschau. "Ich war voller Zuversicht. Ich hatte es in England geschafft. Also würde ich es auch in Polen schaffen!"

Zwar hat Polens Regierung ein Rückkehrprogramm verabschiedet, doch es gibt weder konkrete Stellenangebote noch Eingliederungshilfen. Obwohl inzwischen zehntausende emigrierter Polen Großbritannien und Irland wieder verlassen haben, sind sie doch nicht in Polen angekommen. Die Zahl von über 2,5 Millionen polnischen Arbeitsmigranten bleibt seit Jahren stabil. "Das wundert mich nicht", sagt Marcin. "Im Ausland werden die Qualifikationen von jungen Polen viel höher eingeschätzt als in Polen selbst. So fahren viele weiter. Von England in die USA, nach Kanada, Australien oder Neuseeland."

Er streckt sich, schaut auf die Uhr. In einer halben Stunde muss er wieder los. "Nach meiner Rückkehr nach Polen habe ich mich selbständig gemacht, die Firma ,Fitlife' gegründet, eine englischsprachige Website mit meinen Angeboten ins Internet gestellt - und dann ging es wie von alleine." Er lacht jungenhaft, wirbelt mit der linken Hand seine dunkelblonden Haare durcheinander. Fitnessclubs hätten sich bei ihm gemeldet, Ausländer, die auf der Suche nach einem Personal Trainer waren, Fernsehen, Radio und die Presse.

Die britische Trainerlizenz habe ihm viele Türen geöffnet. "Die meisten denken wohl, ich hätte in London ein schwieriges Examen abgelegt", amüsiert er sich. "Dabei brauchte ich nur mein polnisches Sportdiplom vorzeigen. Aber so funktioniert das eben in Polen." Er trainiere vor allem mit englischsprachigen Ausländern und gut verdienenden Polen, mit Rechtsanwälten, Managern und Ärzten. Denen gehe es meist weniger um sportliche Höchstleistungen als um einen angenehmen und zugleich gesunden Zeitvertreib. Manche möchten abnehmen, andere ihre Muskulatur aufbauen, die nächsten brauchen einen Ausgleich zum vielen Sitzen. "Aber ich bringe auch Kindern das Schwimmen bei, die Angst vor dem Wasser haben. Da braucht man viel Geduld und Einfühlungsvermögen." Er legt das Geld für den Kaffee und das Brötchen auf den Tisch und steht auf. Das nächste Training steht an.

Von außen unterscheidet sich der Fitnessclub nicht von den anderen Villen im Stadtteil Wola. Am Montagmorgen um 10 Uhr ist der Saal mit den Geräten fast leer, auch im Schwimmbad krault nur eine Person durchs Becken, nebenan auf den Laufbändern rennen zwei Frauen auf einem imaginären Naturpfad vor sich hin. Marcin Jasinski kommt aus der Umkleidekabine. Er ist Spezialist für Immobilienrecht und trainiert viermal wöchentlich mit seinem Namensvetter Marcin Wodzynski. "Es hat ein bisschen gedauert, bis wir einen geeigneten Club gefunden haben", erzählt der Jurist. "Die meisten anderen sind größer. Aber so viele schweißtriefende Leute auf einmal zu sehen, macht keinen Spaß. Deshalb kommen wir hierher, wenn möglichst wenig los ist." Mit Marcin trainiert der 35-Jährige, seitdem der aus England zurückgekehrt ist und sich selbständig gemacht hat. Viermal wöchentlich, immer im Wechsel - Laufen an der frischen Luft, Arbeit an den Geräten zum Muskelaufbau und wieder Laufen. "Ohne die EU wären wir uns nie begegnet", sagt Marcin, der Jurist. "Ich habe viel mit Ausländern zu tun. Ab und an gehe ich mit denen laufen." Da sei ein Trainer, der außer Polnisch auch Englisch beherrsche, Gold wert. Der andere Marcin klopft ungeduldig lachend auf eines der Geräte. "Dont talk all the time. Come here und lets start!"

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