Der Fall Kurras: Ein konservativer Generalangriff

Die Entdeckungen im Fall Kurras schicken die Deuter von 68 zurück in die ideologischen Schützengräben, Frontlinien werden erneut gezogen. Ist das noch interessant?

Es geht, mal wieder, um die Deutungshoheit. Bild: ap

Eigentlich hätte ein sardonisches, bitteres Gelächter ausbrechen müssen. Karl-Heinz Kurras war ein Spitzenagent der Stasi. Ausgerechnet der Mann, der für die Studentenbewegung Inbegriff des hässlichen Westdeutschen war, außen Demokrat, innen aggressiver Spießer. Ausgerechnet der Mann, den Bild und die Westberliner Polizei damals als tapferen deutschen Beamten feierten und mit dem die Westberliner Justiz so auffällig freundlich umsprang. Was für eine Farce.

Wir sind in Deutschland. Dafür werden flugs die ideologischen Schützengräben neu befestigt. Es geht, mal wieder, um die Deutungshoheit über "68". Ist das eigentlich noch interessant? Handelt es sich nicht um einen Zwist, in dem die Akteure der Revolte bloß noch grimmig ihre eigenen Selbstbilder - als gewendete Konservative oder unverdrossene Linke - verteidigen? Oder haben wir es mit einem konservativen Generalangriff zu tun, der die linksliberale Geschichte hinwegfegen will? Und wenn: Muss man den ernst nehmen?

Die Idee, man müsse nun die Geschichte der Republik umschreiben, ist nicht weniger irre als der Fall Kurras selbst. Wir können in dessen vermutlich schwarze Seele nicht hineinschauen. Aber vieles spricht dafür, dass Waffennarr Kurras ein ins Psychopathologische gesteigerter autoritärer Charakter ist, dem der Korpsgeist der Westberliner Polizei ebenso zusagte wie die Stasi-Hierarchie.

Schon 1955 sehnte sich er sich jedenfalls nach Dienst bei der DDR-Volkspolizei, weil er sich dort "geordnete Verhältnisse" versprach. Kurras, geboren 1927 in Ostpreußen, durch Krieg und Haft beschädigt, ist kein untypischer Vertreter seiner Generation. Was er 1967 von Gammlern, Kommunarden und Langhaarigen hielt, lässt sich denken. Im Affekt gegen die aufbegehrende Pop-Jugend waren sich Bild und Stasi, bei allem, was sie sonst trennte, ziemlich nah.

Der Fall Kurras zeigt, auch mit Stasi-Spitzelei, was das zum Klischee verkommene "68" war: eine eisige, scharfe Konfrontationen der Kriegs- und NS-Generation mit ihren Kindern. Hannah Arendt schrieb 1961 über westdeutsche Studenten hellsichtig: "Sie waren sehr begeistert von mir, aber eben auch darum, weil es niemand gibt auf weiter Flur. Der Generationsbruch ist ungeheuer. Sie können mit ihren Väter nicht reden, weil sie ja wissen, wie tief sie in die Nazi-Sache verstrickt waren." Das war der Sprengstoff, der sich 1968 entlud.

Die Bewegung war ungemein wirkungsvoll und ein bisschen irre, voller Hybris und Machtfantasien. Karl-Hermann Flach, ein kluger FDP-Mann, der mit der Revolte sympathisierte, schrieb im Januar 1968: "Die jungen Radikalen unter den Studenten verachten offensichtlich den Kompromiss nicht nur, sie bekämpfen ihn leidenschaftlich. Eine geistige Elite, die wieder mal glaubt im Besitz der Wahrheit zu sein, ist ein sehr deutsches Phänomen. Und zumindest ein Teil der radikalen Intelligenz scheint bei allen Versuchen, eine rationale Analyse der Dinge vorzunehmen, doch wieder bei krasser Romantik zu landen."

So war es - und auf der anderen Seite war der Aggressionsstau beänstigend. Der Hass der Mehrheitsgesellschaft auf die Rebellen war, verstärkt durch Bild, enorm. So brach sich eine gewalttätige Radikalisierung Bahn, ein Generationskonflikt, der in die besinnungslose Eskalation führte.

Dass dies in Deutschland geschah, war kein Zufall. Die linksterroristischen Bewegungen waren in Deutschland, Italien und Japan am stärksten - den faschistischen Achsenmächten. Andernorts, etwa in den Niederlanden, wo niemand zur Jagd auf Langhaarige blies, saßen Rebellen nach ein paar Jahren im Stadtrat. In Deutschland in Stammheim.

Der Fall Kurras fügt sich nun trefflich in die in Mode gekommene Generalrevision von "68" und den linksalternativen Bewegungen der 70er-Jahre. In diesem Blick ist "68" nichts als eine totalitäre Bewegung, Rudi Dutschke der Vordenker der RAF. Die Revolte erscheint als unheilvolle Störung der heilen, intakten CDU-Demokratie der 50er- und 60er-Jahre. Ein Fall von Jugendirrsinn, über den man heute nur noch den grau gewordenen Kopf schütteln kann. Man muss die Bewegungen der 60er- und 70er-Jahre nicht klüger machen, als sie waren - aber man sollte auch nicht, wie manche von Abrechungsverve beseelte Zeithistoriker, ihre Dialektik übersehen.

Beispielhaft kann man dies anhand der Kampagne gegen die Notstandstandsgesetze 1968 vor Augen führen. Die Bewegung malte alarmistisch das Schreckbild eines neuen 1933 an die Wand und sah ein neues Ermächtigungsgesetz auf dem Weg. Zu Unrecht. Die Notstandsgesetze verstaubten nach dem Trubel in den Schubladen. Gustav Heinemann, damals Justizminister der großen Koalition, hatte Recht: Die Notstandsgesetze waren besser als der Status quo, der Willkür Tür und Tor geöffnet hätte. Doch im Rückblick die Bewegung hysterisch zu finden und die Parlamentarismuskritik der 68er als totalitär zu entlarven, ist uninteressant. Dieser Streit war das einzige Mal in der mit republikanischen Grundsatzdebatten nicht gerade gesegneten bundesdeutschen Geschichte, dass Hunderttausende für das Grundgesetz auf die Straße gingen.

In diesem Sinne war "68" eine nachholende Gründung der Demokratie, die die Alliierten den Westdeutschen 1949 geschenkt hatten. Der Verfassungspatriotismus, die einzige sinnvolle Selbstbeschreibung, die die Bonner Republik hervorgebracht hat, wäre ohne die Kampagne gegen die Notstandsgesetze jedenfalls ein Schiff ohne Treibstoff gewesen.

Die Jugendrevolte hat Ende der 60er-Jahre in London und Mexiko, in Amsterdam und Berlin die Gesellschaften verändert. Der antiautoritäre Impuls beflügelte grundlegenden Wandel, in Familien und Schulen, Fabriken und Geschlechterverhältnissen. Die Revolte zerbrach starre Normen, verschob Werte und machte die Gesellschaft individualistischer - in ironischem Widerspruch zur neomarxistischen Ideologie der Wortführer der Bewegung. Diese Entkrampfungen und Freiheitsgewinne sind kaum zu überschätzen - von den Heimen bis zur Kindererziehungen, von den Schulen bis zur Bundeswehr. Es ist wohl diese Tiefenwirkung, die Konservative bis heute so nachhaltig wurmt.

Udo Di Fabio hält die Revolte unverzagt für einen Anschlag auf "Ordnungsgeist und Pflichtethik, bürgerliche Lebensform, Ehe und Karrierewillen", den es zu revidieren gilt. Mehr Bindung, weniger Freiheit, mehr Anerkennung für die Eliten und Leistungswillen, und, bitte schön, Schluss mit diesem weiblichen Emanzipationsgerede. Dies ist das Mantra der Neobürgerlichen. Im Hintergrund glimmt der Traum von einer Welt, in der die Männer das Sagen haben, Kinder brav und Familie und Nation heilig sind.

Diese Welt ist in den 60er-Jahren und danach langsam untergegangen. Und in manchem hat der Geist der Revolte auch das konservative Milieu erreicht. Eine Frau als Parteichefin, eine Familienministerin, die rot-grüne Politik macht, schwule CDU-Bürgermeister wären in den 70er-Jahren für das konservative Milieu undenkbar gewesen. Vielleicht ist der krampfhafte Versuch der Neobürgerlichen, "68" aus der Geschichte zu tilgen, ja ein ganz beruhigendes gutes Zeichen: eines von Schwäche.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.