Riesenbaustelle Ostkreuz: Krach ums Ostkreuz

2016 soll das Ostkreuz als schicker Bahnknotenpunkt erstrahlen. Dafür wird der Bahnhof abgerissen und neu aufgebaut - bei laufendem Betrieb. Für die Anwohner ist das ein Lärmärgernis, jede Entschädigung müssen sie der Bahn mühsam abringen.

Der friedliche Schein trügt: Zug fährt in den Bahnhof Ostkreuz ein Bild: REUTERS

Täglich nutzen rund 100.000 Reisende als Ein-, Um- und Aussteiger die neun S-Bahn-Linien des Bahnhofs Ostkreuz. Riesengroß sei deswegen das Interesse an der Großbaustelle Ostkreuz, sagt Bahn-Sprecher Michael Baufeld. Und da dort noch acht Jahre gearbeitet wird, habe man nun einen festen Anlaufpunkt geschaffen: eine knallrote Infobox. Heute weiht die Bahn den Infokasten am Bahnhofsausgang Markgrafendamm ein. Am Dienstag wird er erstmals für alle begehbar sein. Denn vorerst öffnet der Informationscontainer nur dienstags von 14 bis 19 Uhr - und auf Nachfrage über das Ostkreuz-Infotelefon: 29 71 29 73. In der Box informieren ein Modell des künftigen Bahnhofs, Anschauungstafeln und eine Filmanimation des Geländes über die Entwicklung am neuen Ostkreuz. Chef des Kastens wird Hans-Günther Dirks sein, ein alter Eisenbahner, seit 45 Jahren bei der Bahn. Bei ihm können auch kostenlose Führungen gebucht werden. KO

Immer mehr Menschen reihen sich ein in die Traube um Mario Wand. Wacker streckt der Mann mit der randlosen Brille und dem langen, schwarzen Mantel den Lautsprecher seines Mikrofons gen Himmel. Es hilft nichts. "Wir hinten hören nischt", murrt es. Anwohner und Bahnfans, vor allem Ältere, sind gekommen, um Mario Wand zu lauschen, dem für den Umbau des Ostkreuzes zuständigen Projektleiter der Deutschen Bahn.

Mehr als 200 Zuhörer wird Lichtenbergs Bürgermeisterin Christina Emmrich (Linke) zählen, viel mehr als erwartet. Und das bei dem schneidenden Wind an diesem Samstagmorgen. Emmrich hatte zu der Baustellenführung ums Ostkreuz mit Mario Wand eingeladen. "Die Lichtenberger sind ein interessiertes Völkchen", kommentiert sie den Andrang.

Das erklärt aber nicht alles. Vielmehr sprengt der Umbau des Ostkreuzes auch Berliner Dimensionen: ein kompletter Bahnhofsabriss und -neubau bei laufendem Betrieb, 10 Jahre Bauzeit, über 50 einzelne Bauphasen auf 15 Kilometer Streckenlänge, 11 neue Bahnbrücken, 411 Millionen Euro Gesamtkosten. Am Ende, 2016, wird sich hier kein Gleis mehr an der Stelle befinden, wo es einmal lag.

"Sie sehen hier den wichtigsten Knotenpunkt im Berliner Nahverkehr", beginnt Mario Wand seine Führung. Bedächtig, wohl formulierend erzählt der Hellersdorfer mit einem leichten Dialekt, der seine Wurzeln im Harz verrät. Neun S-Bahn-Linien verkehren am Ostkreuz, rund 100.000 Reisende steigen hier täglich um. Nach dem Neubau sollen es sogar noch 23.000 Menschen mehr sein. Kein Berliner Bahnhof ist so stark befahren: Werktags halten hier die Bahnen im Zwei- bis Dreiminutentakt. Gerade deshalb sei der Ostkreuz-Umbau von "immenser gesamtstädtischer Bedeutung", betont Umweltsenatorin Katrin Lompscher (Linkspartei). "Der gesamte Bahnhof ist technisch veraltet und in einem schlechten baulichen Zustand."

Schon seit Jahrzehnten trug man sich mit dem Gedanken, den 1882 unter dem Namen "Stralau-Rummelsburg" eröffneten Bahnhof zu erneuern. Seit 2006 wird genau dies unter der Leitung von Mario Wand getan. "In dieser Langfristigkeit und mit der Arbeit bei laufendem Betrieb ist die Baustelle Ostkreuz ein Novum in Berlin", knarzt es aus Wands Lautsprecher.

Der 45-Jährige leitet den Menschentross einmal um die Baustelle, zeichnet die Ausmaße des neuen Großbahnhofs in die Luft. Dort oben, wo heute die Hochtrasse der Ringbahn verläuft, werde einmal eine gläserne, 130 Meter lange Halle den neuen Bahnsteig überdachen. Darunter können die S-Bahn-Züge künftig im Richtungsbetrieb fahren: auf einem Bahnsteig stadteinwärts, auf einem anderen stadtauswärts. Auf vier Gleisen werden erstmals Regionalbahnen am Ostkreuz halten. 10 Aufzüge und 13 Rolltreppen verbinden die Bahnsteige, es gibt Ausgänge in alle vier Himmelsrichtungen. Die Straßenbahn wird eine Haltestelle am Bahnhof erhalten. Und tief im Erdreich unter dem Ostkreuz werden vorsorglich Tunnelstücke für die geplante Verlängerung des Stadtrings A 100 errichtet. Mario Wands Zuhörer brauchen viel Fantasie, sich dies alles vorzustellen.

Einer ist heute nicht zu der Führung gekommen: Jürgen Freymann. "Ich war beim letzten Rundgang dabei. Das reicht erst mal." Der 46-jährige Ingenieur mit den Kräusellocken, der kleinen Brille und dem gestutzten Bart hat auch so die Baufortschritte am Ostkreuz bestens im Blick. Ganz oben wohnt er, in einem Mietshaus in der Neuen Bahnhofstraße. Eine helle Wohnung, etwas Holzvertäfelung, mannshohe Zimmerpflanzen. Vor seinem Balkon breitet sich das Ostkreuz aus: die angegrauten Bahnsteige und aufgewühlten Baugruben, rechts der alte Wasserturm, links die Kräne.

Er habe nichts gegen Mario Wand, sagt Freymann. Der sei ein Netter. Aber die bisweilen vorhandene "Arroganz dieses Riesenkonzerns", der Deutschen Bahn, ärgere ihn wohl. Von Anfang an habe weder die Bahn noch der Senat berücksichtigt, dass es um die Baustelle herum ein Wohngebiet mit mehr als 1.000 Anliegern gebe. Doch 10 Jahre Gewummer und Gesäge, Staub und Straßensperrungen - das halte niemand aus, so Freymann. Vor allem nicht nachts, wenn die Bauarbeiten auf Hochtouren laufen, weil die Phasen genutzt werden sollen, in denen die meisten Züge stillstehen.

Im vergangenen Sommer war es, ein Sonntag, 22 Uhr. Jürgen Freymann saß mit seiner Frau auf der Terrasse zum Innenhof. "Plötzlich wummerte es - so ein Geräusch hatte ich noch nicht erlebt. Wie im Fußballstadion." Es war eine Vibrationsramme, mit der die Bauarbeiter bis zu 30 Meter tiefe Bohrpfähle in die Erde stampften. "Vier Nächte in Folge ging das so. Ich konnte nicht schlafen, an Arbeiten war nicht mehr zu denken."

Damals begann Jürgen Freymann, sich zu wehren. Er schrieb Briefe an die Senatsverwaltung, sammelte mit der Anwohnervertretung "Traveplatz Ostkreuz" 170 Unterschriften, klagte gegen die Bahn auf Lärmschutzmaßnahmen und für seinen Schlaf. Im Juli gelang ihm der Coup: Mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht stoppte er die Bauarbeiten der Bahn für ein ganzes Wochenende. Drei Tage Stille.

Ja, diese Klagen im Sommer hätten die Arbeiten vorübergehend zurückgeworfen, erzählt Mario Wand am Rande der Führung. Seit Weihnachten 2008 sei man aber wieder im Plan. "Was machen Sie denn jetzt gegen den Baulärm, damit der da oben nicht wieder klagt?", fragt ein älterer Zuhörer spitz. Mario Wand zählt auf: Mobile Lärmschutzwände seien derzeit in Prüfung. Isolierfenster gebe es für einige Anwohner ab Sommer dieses Jahres. Und wenn es nachts ganz arg kommt, biete man Übernachtungen in Hotels an - auf Bahnkosten. 60.000 Euro würden allein diese Ausweichquartiere kosten. "Das ist der maximale Spielraum. Mehr können wir nicht machen."

Auch den Vorwurf, dass ein neuen "Einerlei-Glas-und-Beton-Bahnhof" entstehe anstelle des alten, rustikal-charmanten Ostkreuzes weist Wand zurück. "Wir werden diverse Reminiszenzen an den historischen Bahnhof integrieren." Bauteile der bisherigen Fußgängerbrücke zum Beispiel. Das alten Bahnsteigdach werde rekonstruiert. "Natürlich bleiben der Wasserturm und die denkmalgeschützten Gebäude stehen." Mario Wands Zuhörer sind zufrieden.

"Ich habe ja gar kein Problem mit dem Bauvorhaben an sich", sagt Jürgen Freymann. "Der Bahnhof war ein Moloch. Und der Umbau bei laufendem Betrieb ist eine technische Meisterleistung." Aber: Wenn die Senatsverwaltung Ausnahmegenehmigung um Ausnahmegenehmigung für die besonders lärmintensiven Arbeiten ausstelle, sei das keine Ausnahme mehr, sondern die Regel. Punkt. Freymann hat einmal durchgezählt: Genau 64-mal sei ihm aufgrund besonders lärmintensiver Bauarbeiten Ersatzschlafraum in Hotels angeboten worden. Meistens ist er trotzdem zu Hause geblieben, um sich das lästige Klamottenpacken und Hin-und-Her-Pendeln zu ersparen. "An Tiefschlaf ist dann aber nicht zu denken."

Eigentlich sei er ein ruhiger Zeitgenosse, "aber zum Kleinbeigeben bin ich auch nicht geboren", sagt Freymann. Seit vier Jahren wohnt er am Ostkreuz, hier fühlt er sich zu Hause. Seine Wohnung ist zugleich Büro. Freymann hat auf seinem Balkon ein Lärmmessgerät angebracht: 70 Dezibel und mehr seien dort bereits angezeigt worden. Ab 65 Dezibel stellt die Bahn wegen "potenziell gesundheitsschädigenden Belastungen" Hotelzimmer für Übernachtungen zur Verfügung. 30-mal seien von der Bahn Ausnahmeanträge für besonders lärmintensive Bauarbeiten gestellt worden, berichtet die Senatsverwaltung für Umwelt und Verbraucherschutz. Zweimal habe man abgelehnt.

"Immerhin", sagt Freymann, "man redet inzwischen miteinander." Seit dem vergangenen Herbst gibt es einen runden Tisch mit Vertretern der Anwohner, des Bezirks und der Bahn. Mario Wand nimmt auch daran teil. 39.000 Infozettel zu den aktuellen Bauarbeiten hätten seine Mitarbeiter zudem in die Briefkästen der Anwohner gesteckt, berichtet Wand. Und am Freitag eröffne eine Info-Box am Südausgang des Ostkreuzes. Von "einer richtigen Informationsoffensive" schwärmt der Projektleiter. "Naja, wir sind auf dem richtigen Weg", sagt Anwohner Freymann.

Die nächste Belastungsprobe kommt im Spätsommer. Aktuell verlaufen die Bauarbeiten verhältnismäßig geräuscharm. Zuletzt wurde eine Sondergenehmigung des Senats genutzt, um zwei Stahlüberbauten für den künftigen Regionalbahnsteig auf ihre Brückenpfeiler zu heben. Richtig laut wird es wieder ab September: Dann werden der Ringbahnsteig und die Südkurve zertrümmert und abgerissen. "Wenn das wieder so kracht wie im vergangenen Sommer, dann braucht es diesmal mehr Bürger, die klagen", grummelt Freymann.

Sein eigener Prozess gegen die Bahn steht vor dem Ende. Es werde wohl einen Vergleich geben. Doch die Bahn sperre sich gegen eine Mietminderung, so Freymann. "Wenn es nicht mal die gibt, muss ich bis zum Urteil weiterklagen." Noch so einen Sommer wie den letzten könne er jedenfalls nicht durchstehen. "Dieser Stress hat mich bestimmt zwei Lebensjahre gekostet."

Mario Wands Führung endet am Oberstufenzentrum in der Marktstraße, gleich neben dem Bahnhof. Bürgermeisterin Christiana Emmrich bedankt sich bei dem "netten Herrn Wand". Mit dem sanierten Ostkreuz werde Lichtenberg "einen weiteren attraktiven Bahnhof bekommen und die Rummelsburger Bucht weiter an Anziehungskraft gewinnen". Die Menschenmenge löst sich auf, einige gehen zum Bahnhof. Sie schauen auf die nebenliegende Baustelle. Ostkreuz 2016 ist weit weg.

"Noch acht Jahre", seufzt Jürgen Freymann.

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