Debatte Das Schlagloch: Nicht noch einen Ratschlag

Alle wissen, wie wir uns steigern können - und übersehen einfach, wie gut wir schon sind.

Zu den nervigsten Begleiterscheinungen der in dieser Jahreszeit nicht eben seltenen Erkältung gehören die guten Ratschläge der Bekannten. "Viel trinken" ist in diesem Jahr offenbar der letzte Schrei.

"Viel trinken" rät unverdrossen der erste Anrufer, der einen morgens mit heiserer Stimme am Telefon erwischt, und "viel trinken" empfiehlt der letzte am Abend. Leute, schaut mal in den Kalender! Selbst wenn die Ärzte erst diesen Winter herausgefunden hätten, dass "viel trinken" wichtig ist, könnte doch jeder davon ausgehen, dass sich diese Information bis knapp vor Frühlingsbeginn längst herumgesprochen hat.

Aber so weit denken die Leute offenbar nicht. Und wenn sie sich wenigstens mit "viel trinken" begnügen würden! Leider haben sie stets weitere Hausmittelchen parat. Ungefragt und ungebeten plaudern sie, obwohl sie doch merken, dass es einem ohnehin schon schlecht geht, mit ihren Kräuterrezepten drauflos. Wenn es nach ihnen geht, braucht man Thymian, Huflattich oder auch Lavendel. Schwitzen nach einer Kanne voll Lindenblütentee, respektive nach einem Eukalyptusbad, dabei (oder vorher oder nachher, keine Ahnung) trage man einen feuchten Kartoffelwickel um den Hals. Gurgeln mit Salzwasser, Inhalieren mit Soundso-Tropfen. Wenn man versucht, es all seinen Freunden recht zu machen, wird Kranksein zum Vollzeitjob. "Schonen" soll man sich allerdings auch.

Vielleicht würde mir das alles nicht so auf die Nerven gehen, wenn a) der Winter dieses Jahr nicht so lang wäre und b) ich nicht ohnehin das Gefühl hätte, dass die allgemeine Ratgeberisierung der Lebenswelt allmählich aus dem Ruder gerät. Ist es am Ende eine Altersfrage? Jedenfalls besitzen meine FreundInnen und ich inzwischen für alle möglichen Bereiche des Lebens Bücher von Experten, wie die betreffende Tätigkeit, die man bis vor Jahren noch einfach so vor sich hin tat, nach neuesten Erkenntnissen am besten zu gestalten sei. Den Schreibtisch aufräumen, einen Terminkalender führen. Neue Liebe finden und alte Freundschaften am Leben erhalten. Wie koche ich mit und ohne Wok, woran erkenne ich die richtige Matratze, wie lerne ich überhaupt schlafen und atmen?

Auch über das Gehen gibt es Bücher. Damit der Bürger seinen Erkenntnisnotstand auf diesem Gebiet überhaupt erst bemerkt, hat man Gehen in Walken umbenannt. Neulich habe ich im Buchladen in ein Buch übers Walken reingeschaut. Ich durchblätterte sechzig Seiten, fand heraus, dass man gute Schuhe braucht, bei der ersten Motivationsflaute nicht gleich hinschmeißen soll und dass man die Arme anwinkelt und mitbewegt. In dem Moment, wo Sie dies hier lesen, haben Sie bereits sechs Euro für die Anschaffung eines Walking-Buches gespart. Ach ja, und viel trinken soll man natürlich auch.

Erst ab einem Alter von über dreißig Jahren, so meine Schätzung, beginnt man sich Fragen wie die nach dem korrekten Gang überhaupt erst zu stellen. Da allerdings weiß man solche Sachen längst. Schwieriger verhält es sich mit den Dingen, die man noch nicht weiß, von denen man aber, sobald man sie weiß, nicht weiß, wie man sich an sie halten soll. Unsere Krankenkassen sind groß in dieser Disziplin des Ausheckens von Vorbeugemaßnahmen, die den Betreffenden allerdings noch vor Erreichen der zu vermeidenden Berufsunfähigkeit den Arbeitsplatz kosten. Zum Arbeiten fehlt einem dann nämlich die Zeit. Um den Nebenwirkungen der Bildschirmarbeit entgegenzuwirken, muss man schließlich alle halbe Stunde mit den Augen hin- und herrollen und sie neu fokussieren. Gymnastik für Rücken und - neu! - Finger und Hände gibt es auch. Autogenes Training senkt die Stressanfälligkeit und den Blutdruck. Bei allem reichen "nur" jeweils zehn Minuten. Das addiert sich.

Wenn man mit dem Zyklus der kleinen Gesundheitstipps einmal durch ist, beginnt man am besten wieder von vorn. Zu lange kann man im Büro allerdings nicht bleiben, schließlich sollte man dreimal die Woche kardiovaskulären (oder so ähnlichen) Sport machen und sich immer frische Nahrung zubereiten; Fertiggerichte sind tabu. Die Zeit fürs Kochen und sorgfältige Kauen muss man sich nehmen. Fragt sich leider nur: Woher? In der Freizeit fangen die Rezepte zur Verbesserung des Lebens ja erst richtig an. Oder sollte man präziser sagen: Die Anleitungen zur Optimierung der eigenen Person?

Als ich während des Studiums Michel Foucaults "Sexualität und Wahrheit"-Bände 1 bis 3 las, war mir jedenfalls nicht klar, wie weit es mit den Selbstformungs- und Disziplinierungsmaßnahmen einmal kommen würde. Networking, Diäten, Zeitmanagement, dachte ich viele Jahre lang - auf solch einen Quatsch falle ich doch nicht rein! Aber dann merkt man irgendwann, dass alles nicht hundertprozentig läuft. Schulfreunde hat man aus den Augen verloren, "Kontakte" (eigentlich lehne ich bereits diesen Begriff ab) hat man nicht "gepflegt". Das Yogakissen war ursprünglich nicht als Katzenschlafplatz gedacht gewesen, wenn man das Fahrrad wieder in Schuss brächte, könnte man sich spritsparender fortbewegen, und wenn ich auf den Lenker dann noch einen Notenständer klemmte, wie einst meine Mitbewohnerin A., könnte ich an den roten Ampeln meinen Türkisch-Wortschatz verbessern, auch das ein ewiges Projekt.

Problem: Sobald ich besser Türkisch könnte, fiele mir auf, dass ich kein Französisch spreche. Ich lebe bereits vegan, aber esse ich wirklich genug frisches Obst? Auch wenn man ohnehin schon "vernünftig" lebt, nie gibt es den Punkt, an dem das Leben vernünftig genug ist. Es geht immer gesünder, schneller, langsamer, höher, tiefsinniger, gebildeter, besser, weiter. Dabei bereiten gerade die Tätigkeiten, die entspannen und den Alltag "entschleunigen" sollen, am meisten Stress. Es sind ihrer ja so viele! Je mehr Meditationstechniken in "Retreats" erlernt und daheim nie praktiziert werden, desto stärker wächst das schlechte Gewissen. Haben wir uns dafür vom alten Konzept der Hölle und Sünde und dem Bild des stets rechnenden, rächenden und strafenden Gottes emanzipiert?

Der Gedanke der Gewinnsteigerung und Effizienz hat die "alternativen" Lebensformen längst erreicht und partiell aufgefressen. Aber was heißt "längst"? Vielleicht prägte er sie von Anfang an. Ich kenne jedenfalls Leute, die wollen mithilfe von Meditation Schlafenszeit sparen, um Arbeitszeit zu gewinnen. "Der Tag bräuchte mehr Stunden", sagen so viele. Aber warum und wofür? Weil angesichts der begrenzten Zahl von Stunden, die der (bisherige) Tag eben hat, die Zahl der Gebiete, auf denen wir Perfektion erreichen wollen, ins Unerreichbare gestiegen ist. 100 Prozent Richtigmachen sind für 99 Prozent der Menschen einfach zu viel.

Mit Medizin dauert eine Erkältung sieben Tage und ohne sie eine Woche, hieß es früher. Vielleicht ist es in Ordnung, es dabei zu belassen. Auch ohne ständiges Höher, Gesünder, Schneller, Weiter sind wir vielleicht so wie Birgit Vanderbeke einen ihrer wunderbaren Romane betitelte: "Gut genug".

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.