„Wir wollen nicht Ausländer erziehen“

Alle Schüler brauchen interkulturelle Kompetenz. Sie sollen lernen, die Perspektiven zu wechseln, meint Bettina Alavi

taz: Frau Alavi, mit den Jugendunruhen in Frankreich ist die Integration wieder Thema. Was können Pädagogen zur Integration beitragen?

Bettina Alavi: Die Schüler müssen merken: „Wir kümmern uns um euch, wir nehmen ernst, dass Leute hier gemeinsam leben wollen.“ Interkulturelle Erziehung richtet sich an alle Kinder, sie ist keine Ausländererziehung.

Was meinen Sie mit interkultureller Erziehung?

Interkulturelle Kompetenz zu entwickeln. Es bedeutet, mit Heterogenität umgehen zu können und Partizipationsmöglichkeiten für alle zu bieten.

Wie soll das gehen?

Lehrer müssen der Pluralität ihrer Klassen Rechnung tragen. Es ist inzwischen so, dass in einer Klasse Kinder und Jugendliche türkischer, arabischer oder russlanddeutscher Herkunft zusammensitzen können …

was auf dem Gymnasium ganz anders aussieht als in der Grundschule.

Am Gymnasium sind es eher Schüler, die schon sehr gut deutsch sprechen und eine Identität aus beiden Kulturen entwickelt haben. Da geht es darum, dass Heterogenität auch im Unterricht thematisiert wird. An einer Grundschule mit sehr vielen Kindern aus einer bestimmten Gruppe, die etwa aus Russland kommen, müssen die Pädagogen diagnostizieren, welche Sprachkenntnisse die Kinder haben und welche Hilfen sie brauchen.

Viele Schulen widmen sich der Interkulturalität mit Schulprogrammen. Wie funktioniert so ein Schulprogramm?

Die Schulleiter finden beispielsweise heraus, woher die Schüler kommen und in der wievielten Generation sie hier leben. Daraus ergeben sich die Ziele des Programms. Dann wird etwa die Kompetenz gefördert, deutsch zu sprechen – bei Schülern wie bei Eltern. Oder aber die Schüler erhalten unterstützende Kurse in ihrer Herkunftssprache. Oder sie erforschen gemeinsam erst mal ihre Schulumgebung.

Gehört interkulturelle Kompetenz schon zum üblichen Lehrstoff der Universitäten?

Es ist in den Studienordnungen verankert. Ein Problem ist allerdings: Wie bildet man die vielen Lehrer fort, die vor langer Zeit ihr Studium absolviert haben und noch nie von interkulturellem Lernen gehört haben

Was sollen Schüler im interkulturellen Unterricht eigentlich lernen?

Multiperspektivität heißt ein wichtiger Schwerpunkt. Schülern sollen verstehen, die Perspektive zu wechseln. Sie müssen lernen, sich in jemanden hineinzudenken, der hierher gekommen ist, und die Perspektiven von Minderheiten und Mehrheit einzunehmen.

Wie sollten LehrerInnen deutsche Geschichte in einer ethnisch gemischten Klasse unterrichten?

Der Unterricht wird zwar stark aus deutscher Perspektive gemacht, ist aber kein nationalistischer Unterricht mehr. Europäische Gesichtspunkte und Weltgeschichte werden wichtiger. Außerdem ist die Geschichte der Migration, auch die seit 1955, in den Schulbüchern präsent.

Wie funktioniert das praktisch – etwa mit polnischen und deutschen SchülerInnen?

Beim Thema Vertreibung etwa soll Beziehungsgeschichte deutlich werden: Hitlers Bevölkerungsverschiebungen, dann die Vertreibung der Deutschen und auch die Frage, wer dann in diese Gebiete gekommen ist. Man muss fragen: Was bedeutet es, Heimat zu verlieren? Wie geht man mit denen um, die einen vertrieben haben? Aber ich lehne es grundsätzlich ab, zu sagen: „Wir haben jetzt zwanzig Polen und müssen unbedingt polnische Geschichte in den Unterricht bringen.“

Wie würden Sie mit dem Thema Nationalsozialismus umgehen?

Es ist wichtig, dass sich Schüler ergebnisoffen, ohne moralischen Zeigefinger, mit dem Holocaust beschäftigen. Anhand dieses Themas lassen sich auch sehr gut Minderheitenfragen oder Ausgrenzung thematisieren. Ein Problem entsteht dann, wenn man Völkermorde universalisiert und etwa den Türken sagt: „Ihr habt ja auch einen Völkermord gehabt.“ Unsere Frage ist vielmehr: Wie gehen Gesellschaften mit der Geschichte ihrer Völkermorde um?

Gerade an Berliner Schulen mit vielen arabischen Jugendlichen gibt es offenen Antisemitismus. Wie geht man damit um?

Man könnte zum Beispiel Alltagsantisemitismus thematisieren und dann Stereotypen in der Klasse abfragen. Ich persönlich würde nicht sofort zum Thema Holocaust gehen, das wäre eine Instrumentalisierung desselben.

Besteht bei arabischen Jugendlichen ein Bezug zwischen dem Holocaust und ihrem Antisemitismus?

Oft nicht. Mit ihrem Antisemitismus verbinden die Jugendlichen die Palästinenserfrage und den israelischen Staat. Und nicht das, was in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland passiert ist. Das in vorsichtiger Form zusammenzubringen ist die Aufgabe interkultureller Kompetenz.

INTERVIEW: KERSTIN SPECKNER

Dr. Bettina Alavi bildet Geschichtslehrer an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg aus