Glauben: Die Sehnsucht nach Sinn bleibt

Die meisten Berliner sind konfessionell nicht gebunden, die Kirchen verlieren Mitglieder. Aber der verschwundene Glaube hat eine Lücke hinterlassen.

Jeder schustert sich sein eigenes Weltbild zusammen. Bild: AP

Nun also Weihnachten. Wenn Heiligabend erst einmal da ist, endet der Adventsstress. Für ein paar Tage hält die Stadt den Atem an. Wer sich mit Freunden oder Verwandten gut versteht, genießt den Rückzug ins Private. Wenn es dazu wider Erwarten auch noch schneien sollte, könnte Weihnachten sogar ein bisschen märchenhaft werden. Aber mehr? Ein Fest der Glaubens? Für die meisten doch eher nicht.

Berlin ist in weiten Teilen eine säkularisierte Stadt. 60 Prozent der Einwohner gehören keiner Konfession an. Die Mitgliederzahlen der beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften sinken seit langem: Vor zehn Jahren hatte die evangelische Kirche 896.000 Mitglieder, Anfang des Jahres waren es noch 689.000. Die katholische Kirche rutschte in derselben Zeit von 345.000 auf 318.000 Mitglieder ab. Selbst wer in der Kirche bleibt, ist nicht unbedingt gläubig: Manche zahlen aus einem diffusen Nostalgiegefühl heraus weiter ihre Steuer. Oder weil sie es prinzipiell doch richtig finden, dass es so etwas wie die Kirchen und ihre sozialen Einrichtungen gibt.

Religiosität hat in Berlin also wenig Zukunft. Oder etwa doch?

Selbst bei jenen Aufgeklärten, die sich damit abgefunden haben, keine Antworten auf die letzten Fragen zu bekommen, schleicht sich manchmal ein Gefühl ein, dass etwas fehlt. Die Religion ist verschwunden und hat eine Lücke hinterlassen. Spätestens wenn ein Angehöriger stirbt, drängen sich die Fragen wieder auf: Wo ist er oder sie jetzt? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Jeder schustert sich sein eigenes Weltbild zusammen. Das ist die Kehrseite der Aufklärung: Sie hat eine Befreiung bewirkt - und ein Vakuum geschaffen.

Vielleicht ist es das Bedürfnis nach einer größeren Ordnung, das die Menschen in Prenzlauer Berg seit einiger Zeit in die Kirchen treibt. Am vierten Adventssonntag zog es wieder 300 Leute in die Gethsemanekirche an der Stargarder Straße. "Wir sind eine der wenigen Gemeinden, die wachsen", freut sich Wolfgang Schellig, Vorsitzender des Gemeinderats Prenzlauer Berg Nord, zu der die Kirche gehört. Er erklärt sich das Interesse vor allem durch den Zuzug aus den alten Bundesländern. "Die sind christlich sozialisiert." Manche bringen den Glauben mit. Andere besinnen sich wieder auf ihre christlichen Wurzeln, weil sie auf der Suche sind. "Wir hoffen, auch diesen Menschen Antworten geben zu können", sagt Schellig.

Viele junge Familien kommen zu den Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen. Im Schnitt wird jede zweite Woche in der Gethsemanekirche getauft, so Schellig. Möglich, dass die Eltern die eigene Religion an ihre Kinder weitergeben wollen. Vielleicht soll der Nachwuchs auch nur die Chance bekommen, an den christlichen Gott zu glauben. Und so einen Halt zu finden, der den Eltern selbst fehlt.

Dass der christliche Glaube in der Stadt ein Thema ist, zeigt nicht zuletzt das Volksbegehren Pro Reli. Die Organisatoren geben an, inzwischen 135.000 Unterschriften gesammelt zu haben. Keine geringe Zahl für eine Stadt wie Berlin.

Vielen Berlinern bleibt das Christentum aber weiter fremd. Sie suchen sich Ersatzrituale im nichtkonfessionellen Bereich. So erzählt eine Mitarbeiterin des Standesamts in Mitte, dass inzwischen deutlich mehr Gäste zu den Trauungen kommen als früher. "Wir haben öfters 200 Leute hier, wenn sich ein Paar das Jawort gibt." Vor 25 Jahren sei das nicht üblich gewesen - der bürokratische Akt wird zur feierlichen Zeremonie aufgewertet.

Das zeigt sich auch an der Wahl der Örtlichkeit. Das Standesamt Mitte bietet Eheschließungen außer Haus an. So kann man sich etwa in der Nikolaikirche und im Französischen Dom statt von einem Pfarrer von einem Beamten trauen lassen. "Sie sind nicht kirchlich gebunden, möchten aber für Ihre Hochzeit das kirchliche Ambiente und die Feierlichkeit! Geht nicht? Geht doch!", wirbt das Standesamt - wieder ein Hinweis, dass es ein Bedürfnis nach Pathos gibt, das früher kirchlichen Orten und Handlungen vorbehalten war.

Nach Angaben des Humanistischen Verbands steigt auch die Nachfrage nach nicht konfessionell gebundenen Trauerrednern. Die sorgen für einen würdigen Abschied, ohne dabei unbedingt auf das Christentum zu sprechen zu kommen. Sie passen ihre Aussagen den individuellen Wünschen der Angehörigen an. Klaus Elster, der seit 1983 als Trauerredner arbeitet und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Freier Sprecher Berlin ist, beobachtet dagegen einen anderen Trend. Er berichtet, dass die Zahl der Aufträge zurückgeht. "Die Leute sparen, auch an Bestattungen."

Manche Berliner wenden sich gleich ganz anderen Religionen zu. Zum Beispiel dem Islam. Von allen Muslimen in Berlin - laut Statistischem Landesamt insgesamt 216.000 - sind etwa fünf Prozent deutscher Herkunft, sagt Dirk Kroegel, stellvertretender Beauftragter für Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften des Senats. Andere beschäftigen sich mit dem Buddhismus. Der Senat schätzt, dass an der Spree rund 6.500 gläubige Buddhisten leben. Seit fünf Jahren wird an Berliner Schulen auch ein buddhistischer Religionsunterricht angeboten, berichtet Kroegel. "Das zeigt, dass sich Interessierte inzwischen stärker organisieren." Tino Suwada vom Buddhistischen Haus Frohnau sagt: "Die Menschen sind zugänglicher für unsere Lehre. Der Buddhismus ist populär."

Wieder andere Berliner finden bei Hexen und Schamanen ihr Glück. Sie besuchen Seminare und Vorträge. Manche bezahlen ihren geistigen Führern gar den Lebensunterhalt.

Wer solche Bekehrungen bei Bekannten beobachtet, ist meist skeptisch. Nichts gegen Schamanen. Aber von außen wirkt so ein Schritt, als hätte sich der oder die Betroffene aus dem Kaleidoskop der Religionen und Weltanschauungen eine ausgewählt, die ihm passend erscheint. Genau das widerspricht dem Grundansatz von Religionen:Selbst wenn sie andere Glaubensrichtungen dulden, begreifen sich Religionen doch nicht als eine Option unter vielen. Sie erheben einen Anspruch, das eigene Weltbild als das wahrhaftige darzustellen.

Andererseits betrachtet man Gläubige auch mit gewissem Neid. Es muss ein schönes Gefühl sein, auf eine gute Macht zu vertrauen, die einen trägt - sei es ein christlicher, muslimischer oder indianischer Gott. Aber selbst gläubig werden? Das funktioniert bei vielen so einfach nicht. Die Sehnsucht nach Sinn bleibt.

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