Kolumne Einen Versuch legen: Der weiße Rausch

Heldentum wird in Österreich auf der Abfahrtspiste begründet und nirgendwo sonst.

1:45,73. Diese Zeit werde ich wohl nie vergessen. So lange dauerte es, bis Franz Klammer am 5. Februar 1976 auf der Olympiapiste in Innsbruck in die österreichische Geschichte einging. Wahrscheinlich wird es in meinem Heimatland für immer die legendärste Fahrt auf zwei Skiern bleiben. Da kommt auch ein Hermann Maier nicht dran vorbei. Als Elfjähriger saß ich damals, wie der Rest der Nation, vor dem Schwarzweißfernseher und drückte dem Mann mit der Startnummer 15 im knallgelben Anzug - das sah ich erst am nächsten Tag in der Zeitung - die Daumen. Klammer wurde, wie sein nördlicher Namensvetter, zum Kaiser Franz. In keiner anderen Sportart ist in Österreich ein solcher Titel denkbar. Fußballer werden hierzulande höchstens zu Mozarts, Regenten werden sie nicht.

Nichts kommt in Österreich annähernd an die Popularität des Skisports heran. Der einfachste Grund dafür ist, dass man am liebsten über eigene Siege jubelt - das ist ja überall so. Und davon gab es die letzten Jahre mehr als genug. So wurde etwa der Nationencup seit 1990 ununterbrochen von Österreich gewonnen, meistens mit doppelt so viel Punkten wie der Zweitplatzierte. Das System der Kader- und Leistungsauswahl des ÖSV funktioniert so flächendeckend wie früher die Talentsichtung in der DDR. Praktisch kein Kind fällt durch den Rost der ÖSV-Scouts. Ironischerweise wurde aber der beste Skifahrer, den Österreich jemals hervorgebracht hat, der viermalige Gesamtweltcupsieger Hermann Maier, lange übersehen. Er kam erst sehr spät zu seinen vielen Siegen.

Die Sportler des Jahres sind in Österreich fast immer Skirennläufer. Hermann Maier, Benjamin Raich oder Renate Götschl sind in heimischen Werbespots Dauerbrenner. Aber auch nach ihrer Karriere sind einzelne Skirennläufer sehr erfolgreich: Der ehemalige Abfahrer Armin Assinger ist mit der Sendung Millionenshow zum Günther Jauch Österreichs geworden. Harti Weirather und Klaus Heidegger, Stars der 70er- und 80er-Jahre, sind heute millionenschwere Geschäftsleute. Und der Ex-Slalomspezialist Hansi Hinterseer, immer braun gebrannt und im weißen Strickpullover, tritt Samstagabend zu bester Sendezeit im deutschen Fernsehen als Schlagersänger auf und verkauft Millionen von Alben mit seichter Volksmusik. Dass es Ski- und nicht etwa Fußballsportler sind, die unsere nationale Identität verkörpern, ist ein deutlicher Hinweis auf die längst stattgefundene Mutation des Landes von der viel beschworenen Donau- zu einer reinen Alpenrepublik. Kein anderes Land der Welt definiert sich so sehr über seine Erfolge im Skisport. Für den Wintertourismus und die Wirtschaft des Landes, insbesondere der westlichen (und reichen) Bundesländer, gibt es keine bessere Imagewerbung, als die Skination Nummer 1 zu sein.

Die letzten Helden in einem durch und durch unheroischen Land gebiert der Skisport. Ein Flachländer wird kaum verstehen, was es heißt, mit 140 Stundenkilometern und dünnen Stahlkanten über vereiste und betonharte Kunstschneepisten zu fahren, Pisten, auf denen selbst ein sehr guter Freizeitskifahrer keinen Schwung zustande bringt.

Skifahren ist eine der gefährlichsten Sportarten, das zeigt jede Verletzungsstatistik. Gefährlichkeit auf etwa zwei Minuten komprimiert, das heißt: Abfahrt Herren. Letztlich ist es, trotz aller Erfolge der österreichischen Skifahrerinnen, nur der Titel eines (männlichen) Abfahrtsolympiasiegers oder -weltmeisters, der in Österreich wirklich zählt. Von Gender-Debatten sind wir weit entfernt. Franz Klammer wäre auch niemals zum Kaiser geworden, hätte er nur den Olympiaslalom gewonnen. In dieser Disziplin wird man maximal zum Slalomkönig.

Was in Deutschland ein Endspiel der Fußballweltmeisterschaft, das ist in Österreich Ende Januar der Start zur Hahnenkammabfahrt, der berüchtigten Streif. An diesem Tag findet die Nation zu sich selbst und nirgends ist der Jubel größer als bei heimischen Siegen. Insofern lässt sich sagen, dass die heimliche Hauptstadt des Landes schon lange Kitzbühel ist und nicht Wien. Aus Wien kommen Politiker, Tarockspieler oder Fußballer, aber keine Helden.

Jetzt zieht der Ski-Zirkus wieder ins Herz Europas. Das österreichische Kalenderjahr wird sozusagen eingeläutet. Dann werde auch ich wieder Samstagmittag den Fernseher einschalten, zum Patrioten werden und mir die Rennen ansehen. Dann verlasse ich für eine Stunde das triste norddeutsche Flachland und befinde mich gefühlsmäßig in den heimatlichen Bergen. Und im Hintergrund trällert Hansi Hinterseer.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.