sozialkunde
: Der Schutz, der zur Falle wird: ein Fischschwarm und die Leitkulturdebatte

Hilft die Leitkultur dem Sardinenschwarm dabei, zusammenzuhalten? Oder den Haien, Beute zu finden? Beides!

Neulich lief einer dieser wunderbaren Tierfilme im Fernsehen. Tragischer Held war ein Sardinenschwarm vor der südafrikanischen Küste, dem sein Versuch, durch synchrone Bewegungen einen großen Fisch vorzutäuschen und so Raubtiere abzuschrecken, zum Verhängnis wird. Delfine machen sich das perfekte Zusammenspiel der Sardinen zunutze, um mit Hilfe von Luftblasen einen appetitlichen Teilschwarm aus den riesigen Sardinenzügen herauszulösen, beieinander zu halten und Fisch für Fisch herauszubeißen.

Auf dem Höhepunkt des Gemetzels bekommen die Jäger Unterstützung aus der Luft. Ein Schwarm Tölpel taucht immer wieder hinein in die Sardinen, bis kein Fisch mehr vorhanden ist. Faszinierende Bilder zeigten, wie Haie und Delfine, die ansonsten einen weiten Bogen umeinander machen, um den Sardinenschwarm so herumschwimmen, dass seine eigene Tendenz, zusammenzuhalten, unterstützt wird und er zugleich immer nahe der Wasseroberfläche gehalten wird. Eine perfekte Arbeit an den Grenzen des Schwarms, die dessen Vorteil der Größe und des Verschwindens jeder einzelnen Sardine hinter allen anderen in den tödlichen Nachteil zu großer Dichte und einer für jeden einzelnen Fisch unmöglichen Flucht verwandelte.

Angesichts der gerade wieder aufgeflackerten Debatte um die deutsche Leitkultur fällt mir dieser Film wieder ein. Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob die Leitkultur das Stichwort ist, das sich der Sardinenschwarm gibt, um wieder Zusammenhalt zu finden, oder die Jagdtechnik, mit der die Delfine, Haie und Tölpel sicherstellen, dass sie ihre Beute finden.

Wenn man an das Beispiel der Natur denkt, die die herrlichsten Synchronizitäten dazu nutzt, um die schrecklichsten Ordnungen des Fressens und Gefressenwerdens durchzusetzen, könnte man auch vermuten, dass beides richtig ist.

In einem der lichtesten Momente der ethnologischen Forschung hat Elizabeth F. Colson, die große alte Dame von der Berkeley University, einmal vorgeschlagen, Kulturen unter dem Gesichtspunkt der Lösung eines Problems zu betrachten, das uns allen nur allzu vertraut ist. Mit wachsender Größe einer Familie, einer Gruppe, einer Sippe, eines Stammes sind wir, bei gleichzeitig nur geringfügig steigerbaren Fähigkeiten zur Interaktion der Individuen untereinander, darauf angewiesen, Faktoren einer so genannten redundacy of actors einzuführen.

Wir fassen Gruppen von Leuten zusammen, behandeln jedes einzelne Individuum nur noch als einen Fall unter anderen und behalten so, gemessen an unseren beschränkten Fähigkeiten der Informationsverarbeitung, die Übersicht.

Die Kategorien der Familien und Stämme, später Schichten, Kasten und Klassen, schließlich Cliquen, Milieus und Netzwerke sind dafür Beispiele. Gruppen von Leuten wird eine Identität zugewiesen, der jedes einzelne Individuum zugeordnet wird. Wer das Spiel nicht mitspielt und sich weigert, in Kleidung, Sprache, Haltung und Mimik die Zeichen zu setzen und zu geben, die es erlauben, die entsprechende Gruppenzugehörigkeit auszumachen, fällt durch das Raster. Ironischerweise ist der große Trend der Individualisierung in der neuzeitlichen Gesellschaft das beste Beispiel für diesen Mechanismus der Redundanzerzeugung. Denn wie immer man sich auch von allen anderen unterscheidet, letztlich ist man nichts anderes als ein Individuum und daher Mitglied einer Gesellschaft, die in diesem Punkt auf Gedeih und Verderb keine Unterschiede kennt.

Individualisierung und Idolisierung (denn man braucht „Stars“, um Gruppen an ihren Stellvertretern erkennen zu können, die dafür allerdings mit der höchsten Interaktionsdichte von allen bezahlen müssen) gehen daher Hand in Hand. Und genau das macht sich der Schwarm zunutze. Er stellt von Koordination zwischen einzelnen Individuen um auf Koordination durch gemeinsame Umwelt.

„Stigmergie“ (Energie aus Stigmata) ist der Fachterminus aus der Termitenforschung, den Pierre-Paul Grassé zur Bezeichnung dieses Sachverhalts in einem Artikel der Zeitschrift Insectes Sociaux (1959) eingeführt hat. Durch Duftnoten im Fall der Termiten oder durch Grenzziehungen zwischen Innenraum des Schwarms und Außenraum des Schwarms wird die Umwelt so markiert, dass sich jedes Individuum daran orientieren kann und so indirekt an allen anderen.

Die Delfine und Haie haben das begriffen und lassen die Sardinen in die Falle ihrer eigenen Redundanzfaktoren laufen. Zu diskutieren wäre, ob wir uns mit der Leitkultur nicht eine ähnliche Falle stellen. Nach den Werten suchend, die uns zusammenhalten, kommen wir nicht umhin, Unterscheidungen zu treffen, die uns unbeweglich machen. Wie sähe eine Leitkultur aus, die hiervor schützt, indem sie darüber Auskunft gibt, wann es erforderlich wird, gegen den Strom zu schwimmen?

DIRK BAECKER