Pflegeunterkunft für Türken in Berlin: Ein Heim fern der Familie

Das "Türk Bakim Evi" ist die erste Senioren- und Pflegeunterkunft speziell für türkische Migranten. Doch die Belegung ist mäßig. Für viele türkische Eltern ist es ein Tabu, ins Heim zu gehen.

Neben dem Bett hängt die Fotografie einer Frau mit Pagenschnitt. Sie sieht aus wie die amerikanische Schauspielerin Elizabeth Taylor in jungen Jahren. Doch der Eindruck trügt. Es ist Nurten Gülbay im Alter von 15, die mit ihren grünen Augen damenhaft in die Kamera blickt. Das Foto wurde 1948 in Istanbul aufgenommen, dort ist Nurten Gülbay geboren und aufgewachsen. "Alle haben gesagt, ich sehe wie Liz Taylor aus", erzählt sie glücklich. Nurten Gülbay ließ kein Volksfest, keine Hochzeit, keinen Geburtstag aus. Wo gefeiert wurde, war sie dabei. "Als Teenager war ich eine Partymaus. Ich habe Tango, Wiener Walzer und am liebsten Cha-Cha-Cha getanzt", sagt sie und gestikuliert mit den Händen. Sie möchte die Schritte am liebsten zeigen. Aber sie kann nicht.

Nurten Gülbay ist jetzt 74 Jahre alt, ihr linker Arm und der linke Mundwinkel sind gelähmt, man versteht sie kaum. Seit acht Jahren sitzt sie im Rollstuhl. "Ich habe acht Schlaganfälle überlebt", sagt die Frau, die heute das dunkle Haar kurz trägt, und kann es selbst kaum glauben. Seit einem Jahr lebt sie im Türk Bakim Evi, zu Deutsch Türkisches Pflegeheim, in der Methfesselstraße in Kreuzberg. Als das Heim Ende 2006 eröffnet wurde, war es das erste dieser Art nur für türkische Seniorinnen und Senioren. Noch heute ist es deutschlandweit einzigartig.

Dass es diese Art der Unterbringung gibt, geht auf den damaligen Generalsekretär der Türkischen Gemeinde zu Berlin (TGB), Celal Altun, zurück. Ihm war aufgrund persönlicher Erfahrungen klar geworden, dass sich türkische Senioren in deutschen Einrichtungen sehr schwertun. Der TGB arbeitete daraufhin ein Konzept über "kultursensible" Pflegeeinrichtungen aus. Das war 2003. Dennoch dauerte es noch einmal vier Jahre, bis das Türk Bakim Evi eröffnet wurde.

Träger ist die Marseille-Kliniken AG, die bundesweit Seniorenheime betreibt. "Die Marseille-Kliniken haben gemeinsam mit der Türkischen Gemeinde erkannt, dass immer mehr ältere türkische Migranten pflegebedürftig sind", sagt Geschäftsführer Harald Berghoff. 6 Millionen Euro hat sein Unternehmen in den Umbau des Hauses investiert.

Schon auf den ersten Blick sieht man, dass es sich um kein normales Pflegeheim handelt. Sämtliche Beschreibungen auf dem Wegweiser gleich neben dem Eingang sind auf Türkisch, die Stationen nach türkischen Städten benannt: Edirne, Ankara, Denizli. Die Wände sind mit orientalischen Ornamenten verziert, statt einer Kapelle gibt es einen Gebetsraum.

Vom Pfleger bis zum Koch, von der Leitung bis zu den Reinigungskräften sprechen alle Mitarbeiter hier deutsch und türkisch. Einzige Ausnahme ist Geschäftsführer Berghoff, der auch noch Chef zweier weiterer Einrichtungen ist. Bei seinen wöchentlichen Besuchen dolmetscht seine Stellvertreterin.

Nurten Gülbay war eine der ersten Bewohnerinnen, die in das Fünf-Etagen-Haus am Rande des Viktoriaparks eingezogen ist. Ihr etwa 20 Quadratmeter großes Zimmer liegt am Ende eines langen Ganges in der ersten Etage. Von ihrem Fenster aus blickt sie auf den ruhigen Hof der Anlage. Sie hat nur wenige eigene Sachen mitbringen können: einen Kühlschrank, eine Holzgitarre als Wanddekoration; noch wichtiger als Möbel sind die Fotos von ihrer Familie. Gerahmte Bilder von ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem verstorbenen Mann hängen an der Wand. Auf einer Holzkommode neben dem Waschbecken steht ihr Lieblingsparfüm - sein Name: Ivrindi, eigentlich ein Ortsname am Marmara-Meer. Es hat eine süße und blumige Duftnote. "Dieses Parfüm liebte mein Mann an mir", sagt sie und schaut liebevoll auf sein Bild. "Schon als junges Mädchen habe ich es benutzt."

Gülbay kam mit 35 Jahren 1968 nach Berlin - allein. Sie fand Arbeit bei Siemens in der Produktion. Ein halbes Jahr später holte sie den Taxifahrer Zeki nach, den sie bereits 1952 in Istanbul geheiratet und mit dem sie zwei Söhne hatte.

Nurten Gülbay dachte damals, sie würden nach zwei Jahren das fremde Land mit genügend Geld verlassen, um in Istanbul ein Haus zu kaufen. Doch es kam anders: Die beiden Söhne gingen in die Schule und lebten sich ein, später machten sie eine Ausbildung, zogen von zu Hause aus, gründeten ihre eigenen Familien. Nurten Gülbay wurde Großmutter.

Da war Deutschland auch ihre Heimat geworden - auch, weil sie keine Wahl hatte. Inzwischen arbeitete sie als Tagesmutter und sprach so gut deutsch, dass viele fragten, ob sie in Berlin geboren sei. Der Wunsch, nach Istanbul zurückzukehren, aber blieb. Daran änderten auch 40 Jahre im Wedding nichts.

In den 90er-Jahren hatten Nurten Gülbay und ihr Mann so viel Geld gespart, dass sie das Haus am Bosporus kaufen konnten, von dem sie so lange geträumt hatten. Doch ihre Kinder und Enkelkinder, die zweite und dritte Generation der einstigen "Gastarbeiter", haben keinen Bezug dazu. "Ich hatte das Haus", sagt sie traurig, "aber keiner wollte es nutzen."

Als ihr jüngster Sohn vor einem Jahr mit seiner Familie in den Urlaub in die Türkei fuhr - nicht in das Haus, sondern in den Ferienort Antalya, den auch viele deutsche Familien lieben -, hat er seine Mutter für einen Monat im Türk Bakim Evi einquartiert. Gülbay entschied damals, für immer zu bleiben, und bezog ein Einzelzimmer. Sie bezahlt es mit ihren Ersparnissen. Pro Monat kostet die Betreuung in der Pflegestufe 3 rund 3.100 Euro; ihre Krankenkasse zahlt nicht ganz die Hälfte davon. Das Traumhaus am Bosporus hat sie vor sechs Jahren schweren Herzens verkauft. "Was soll ich damit, so ganz allein?" Das Geld, das sie dafür bekommen hat, hat sie mit der größten Selbstverständlichkeit ihren Söhnen geschenkt.

"Unsere Bewohner sind hauptsächlich in der Pflegestufe 3", sagt Geschäftsführer Berghoff. Das heißt, sie brauchen rundum Betreuung. Mehr als die Hälfte der Bewohner sind demenzkrank, bettlägerig und gelähmt. 22 Pflegemitarbeiter, Physio- und Ergotherapeuten sowie drei Sozialarbeiter kümmern sich um sie.

Doch bisher ist die Einrichtung mit den 150 Plätzen nur zu einem Drittel belegt - trotz Werbung in den türkischen Medien. "Viele türkische Senioren sind nicht über ihre Ansprüche aufgeklärt", glaubt Berghoff. Sie wüssten einfach nicht, dass sie in ein Pflegeheim gehen könnten. Erst bei etwa 90 Bewohnerinnen und Bewohnern decken sich laut Berghoff die Kosten.

Viel schwieriger sei "jedoch der kulturelle Bruch, den eine Unterbringung im Heim für türkische Senioren bedeutet - denn eigentlich ist es ein Tabu", sagt Berghoff. Auch Nurten Gülbay hat damit enorme Probleme. Denn ganz freiwillig hat sie ihre Wohnung im Wedding nicht verlassen. "Meine Eltern lebten bis zu ihrem Tod bei meinem Bruder", berichtet sie. Nie in ihrem Leben hätte sie sich vorgestellt, am Ende ihrer Tage in einem Seniorenheim zu leben. Sie ist die Erste in ihrer Familie, die so untergebracht ist.

Tagsüber hält sie sich meist im Gemeinschaftsraum auf. Er ist hell, sie trifft dort fast alle Bewohner. Auch wenn es ihr manchmal zu anstrengend ist, weil einige Senioren zu laut reden, ist sie gern dort. "Immerhin ist hier Leben", sagt sie und schaut mit einem einsamen Blick zu den Bewohnern. Morgens spielt sie mit der Seniorengruppe in der Sportstunde Ball mit der funktionierenden rechten Hand. Regelmäßig geht sie mit den Pflegern und anderen Senioren auf dem Gelände und im Viktoriapark spazieren. "Ich bin hier nicht allein, es ist immer jemand da."

Durch das im Alltag gesprochene Türkisch fühlt sie sich heimisch. Denn seit sie nicht mehr arbeitet, hat sie deutsch weitgehend verlernt. Der Plasmafernseher strahlt türkische Programme und Nachrichten aus. Viele Senioren hier hören Lieder aus der türkischen Hitparade der 70er-Jahre, spielen Backgammon oder lassen sich im heimeigenen Friseursalon die Haare machen.

Auch der Speiseplan unterscheidet sich vollkommen von einem deutschen Seniorenheim. Es gibt Reis mit Zucchinimusaka, gefüllte Auberginen, Weintraubenfüllung und immer Joghurt dazu. "Das ist mit ein Grund", sagt Günbay, "warum ich hier bin."

Doch sie redet sich das Türk Bakim Evi schön, zeigt sogar Verständnis dafür, dass ihre beiden Söhne immer weniger Zeit für sie haben. Die Besuche ihrer Söhne beschränken sich auf die Wochenenden. Dann schauen sie mit ihren Frauen und Kindern vorbei. Der ältere Sohn ist Fahrer und der jüngere, der Günbay vor einem Jahr ins Heim brachte, Altenpfleger - ausgerechnet.

Der berühmt-berüchtigte Zusammenhalt türkischer Familien, die intakten Großfamilien, in denen die Jungen sich um die Alten kümmern, wird mehr und mehr zum Mythos. "Ich bin eine Mutter", sagt Günbay enttäuscht, "der Gedanke meines Sohns, mich in ein Heim zu bringen, war Anlass genug für mich, hier zu bleiben." Ihr fällt es schwer, darüber zu sprechen. Immer wieder zuckt sie mit den Schultern und schüttelt den Kopf mit der wenigen Kraft, die ihr geblieben ist. "In Wahrheit hat mich mein Sohn beleidigt. Als er mich vor einem Jahr ins Pflegeheim brachte, hat er mich verloren." Auf die Frage, ob vielleicht sie sich verändert hat, reagiert sie überrascht. "Ich habe mich nicht verändert", sagt sie mit fester Stimme. "Die Zeiten sind schlecht geworden."

Wenn Nurten Gülbay nachts in ihrem Zimmer liegt, denkt sie viel über ihr Leben nach. Es sind keine süßen Gedanken, sondern bittere Erkenntnisse. "Ich bereue es, vor 40 Jahren nach Deutschland ausgewandert zu sein", sagt sie. "Hätte ich genauso fleißig in meiner Heimat gearbeitet, hätte ich auch genauso viel erreicht."

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