Vaclav Havel-Gefährte über Prager Frühling: "Wir Tschechen sind sehr rational"

Keine Panzer, kein territorialer Disput: Der tschechische Schriftsteller und Prager Frühling-Wortführer Pavel Kohout sieht keine Parallele zwischen Russlands Georgieninvasion und dem Prager Frühling.

Bild: dpa

taz: Herr Kohout, als Sie vom Einmarsch russischer Truppen in Georgien hörten, mussten Sie da auch an die Niederschlagung des Prager Frühlings denken?

Die Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 markierte das blutige Ende des "Prager Frühlings", jenes Versuchs, den Sozialismus von innen und auf demokratischem Wege zu reformieren. Kurz vor Mitternacht besetzten sowjetische Panzer die Hauptstadt, gepanzerte Fahrzeuge mit Soldaten des Warschauer Pakts drangen in alle Landesteile vor. Das Radio verbreitete am Morgen die Nachricht vom Einmarsch, überhaupt war in diesen Tagen das Radio für viele Menschen die wichtigste Informationsquelle. Besonders heftig tobte daher der Kampf um das Redaktionsgebäude des tschechoslowakischen Rundfunks. Bürger versuchten mit Sitzblockaden und Barrikaden, die Übernahme des Rundfunks durch die Besatzer zu verhindern: vergeblich.

40 Jahre später wird heute in Prag mit zahlreichen Veranstaltungen dieser Ereignisse gedacht. Höhepunkt der Feierlichkeiten ist die Eröffnung der Ausstellung "Und Panzer kamen 1968" im Prager Nationalmuseum.

Pavel Kohout: Überhaupt nicht. Ich wüsste nicht, warum ich daran denken sollte. Das eine hat mit dem anderen wenig zu tun.

Vielleicht liegt es ja auch am 40. Jahrestag. Aber viele, angefangen mit Condoleezza Rice, sehen da Parallelen.

Das ist deren Sicht. Die Tschechen und Slowaken haben niemanden beschossen, sie haben auch keinen territorialen Disput gehabt und nirgendwohin Panzer geschickt. Das Einzige, was den Einmarsch in Georgien mit dem in der Tschechoslowakei 1968 verbindet, ist, dass es in beiden Fällen um einen russischen Überfall ging. Die russische Politik ist halt so.

Was haben denn die EU, die Nato oder Deutschland falsch gemacht in ihrer Russland-Politik?

Die EU ist nach wie vor sehr schwach in ihrer Außenpolitik. Man muss ja nur an das Kosovo denken. Das wurde nach ganz anderen Maßstäben beurteilt als heute die Situation im Kaukasus. Das ist nicht in Ordnung.

Kosovo, die Nato-Erweiterung, der geplante US-Raketenschild in Tschechien und Polen: Provoziert der Westen Russland nicht ein bisschen?

Die Russen wissen doch genau, dass der Raketenschild nicht gegen sie geht. Das wurde doch alles schon zur Genüge erklärt. Ein politisches Spiel.

Haben die Tschechen Angst vor den Russen?

Wir Tschechen sind sehr rational. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man Russland für den richtigen Schirmherrn gehalten, weil der andere, also England und Frankreich, ja so versagt hatte. Die Russen haben dann den großen Fehler gemacht, dass sie in ein Land einmarschiert sind, mit dem sie nie in Konflikt waren. Tschechen und Russen haben ja nie gegeneinander gekämpft. Deswegen war der Überfall ja auch so schrecklich. Dann hat man sie natürlich gehasst, wie man eben alle Okkupanten hasst. Als die Russen dann nach Hause gingen, haben manche tschechische Frauen geweint, weil ihnen die jungen Soldaten leidtaten, die da, in Waggons gepfercht, ins Ungewisse fuhren. Und jetzt sieht man, dass sich Russland im Prinzip nicht geändert hat. Also zieht man Konsequenzen - indem man sich mehr an den Westen hält.

Und Sie persönlich? Viele Tschechen schauen doch mit einem eher flauen Gefühl gen Osten.

Ich beurteile Länder nicht nach ihrer politischen Führung. Ich bewundere die Russen für ihre unheimliche Geduld, mit der sie wirklich alles ertragen. Seit Jahrhunderten. Was den Russen fehlt, ist so etwas wie die Französische Revolution. Die führte letztendlich zur Demokratie. Sieht man sich die russische Revolution und die russische Geschichte an, wird klar, dass man ihnen noch Zeit, aber auch auf sie Acht geben muss.

Fehlt den Tschechen nicht auch eine Revolution?

Warum auch? Hier gab es schon im Mittelalter bei den Hussiten demokratische Ansätze. Und dann gab es es die braven Österreicher, die ihre Tschechen in die Demokratie eingeführt hatten. Tschechien war schon am Ende des 19. Jahrhunderts ein ziemlich demokratisches Land. So hat man zum Beispiel seine Probleme mit Deutschen und Österreichern nicht in Straßenkämpfen ausgetragen, sondern in Frankfurt und Wien in den Parlamenten gelöst.

Hat sich diese demokratische Tradition in den Reformversuchen des "Prager Frühlings" widergespiegelt?

Von heute aus, also mit genügend Zeitabstand betrachtet, ging es nicht darum, die Quadratur des Kreises zu lösen. Der Sozialismus sowjetischer Prägung war nicht zu verbessern. Aber es ging darum, dieses Land bewohnbar, das System erträglich zu machen. Und das hat man auf tschechische Art gemacht. Denn die früheren Versuche in Berlin, Posen oder Budapest führten nur zu Barrikaden und Blutvergießen. Die Tschechen haben versucht, die Kommunistische Partei von innen zu öffnen. Das war auch nur hier möglich, denn die Partei hatte damals eineinhalb Millionen Mitglieder. Hunderttausende waren nach dem Krieg mit besten Absichten der Partei beigetreten. Die waren dann die treibende Kraft des Reformversuches.

Sie hatten wohl nicht mit dem stalinistischen Terror gerechnet, der in den 50er-Jahren folgen sollte.

Ja, das waren anständige Menschen mit guten Vorstellungen. Als die merkten, dass sie den Teufel mit dem Beelzebub austrieben, schämten die sich plötzlich und wollten das System korrigieren.

Hat die Niederschlagung dieses Reformversuchs, also der letzte Beweis für die Unreformierbarkeit des Systems, die Samen für 1989 gesät?

Der Niedergang der Sowjetunion war die Folge vieler Komponenten, vor allem einer weisen Politik des Westens. Damals haben zwar Millionen Deutsche gegen die Stationierung von Pershing-Raketen protestiert, aber die waren der einzige Weg, die Sowjets an den Verhandlungstisch zu bringen. Die Dissidenten, Bürgerbewegungen wie die Charta 77, waren natürlich auch wichtige Komponenten. Aber sicher nicht die entscheidende. Auch die Sterne waren uns diesmal gnädig.

War es nicht gerade die brüderliche Okkupation der Tschechoslowakei, die vielen die letzte Illusion über die Zukunft des Sozialismus genommen hat?

Ja sicher. Im Gegensatz zur DDR wusste man hier am 21. August 1968, dass die Partei nicht reformierbar ist. Deshalb musste ich lachen, als im Herbst 1989 der ehrwürdige Schriftsteller Stefan Heym und Stasi-Chef Mischa Wolf gemeinsam von einem Lkw auf dem Berliner Alexanderplatz aus den Sozialismus mit menschlichem Antlitz verkündeten.

Viele Tschechen stehen heute den Reformversuchen des Prager Frühlings kühl bis kritisch gegenüber.

Aber das ist die Generation derer, die sich an der Normalisierung der 70er- und 80er-Jahre mitschuldig gemacht haben. Die Parteiführung und die Staatsführung hatten total versagt. Denn trotz der Unterstützung von 15 Millionen Menschen haben sie das schändliche Moskauer Protokoll unterschrieben. Danach gab es viele, die den Lauf der Geschichte zu ihrem Vorteil genutzt haben. Denn man hat eine halbe Million Menschen nicht nur aus der Partei geworfen, sondern auch von ihren Posten entfernt. Und auf die gab es dann einen großen Andrang. Die größten Antikommunisten traten auf einmal der Partei bei und wurden konform. Viele haben heute ein schlechtes Gewissen.

Wie erlebten Sie den 21. August 1968?

Im August 1968 fuhren meine Freundin und ich nach Salzburg, um dort zu heiraten. Unsere Papiere kamen nicht, also fuhren wir inzwischen weiter nach Italien. In San Marino stellten wir dann fest, dass wir nicht miteinander leben können, weil wir in den wichtigsten politischen Fragen verschiedener Meinung waren. Am Mittag des 21. August kamen wir in Perugia an und trennten uns dort definitiv. In dem Moment kam ein Zeitungsverkäufer die Straße entlang und rief "Cecoslovacchia è occupata". So sind wir zusammengeblieben. Bis heute.

INTERVIEW: SASCHA MOSTYN

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