Warum Angstgegner der deutschen Elf nützen: Gäbe es doch Gerechtigkeit

Die deutsche Mannschaft ist dann voll da, wenn ihr Gegner stark ist. Im Finale gelten die Spanier als Favoriten. Besseres kann Löws Team also gar nicht passieren.

4-2-3-1 oder 4-4-2 oder beten... was solls. Bild: dpa

Vom Finale natürlich keine Prognosen. Nur zwei Erkenntnisse aus Turnierverlauf und Semi-Finals. Erstens: Es hängt nicht vom System ab, wie gut oder schlecht die Deutschen spielen. Mit 4-2-3-1 waren sie sehr gut gegen Portugal und sehr schlecht gegen die Türkei. Mit 4-4-2 gut gegen Polen, mäßig gegen Österreich und schlecht gegen Kroatien. Die Qualität von Löws Team hängt an etwas anderem; und zwar primär an der Laufbereitschaft.

Die Fähigkeit, genügend schnell und ausdauernd zu laufen - und dies in den richtigen Momenten - verstanden nicht als physische Qualität, als eine Sache der sogenannten Kondition, sondern als eine psychische Qualität. Löws Team hat hier ein Handicap. Gegen unterschätzte Teams (Kroatien, Türkei) war die Laufbereitschaft miserabel. Gegen das Team, wo die meisten psychischen Hemmungen bestanden - Österreich: Angst vor einer zweiten Blamage à la Cordoba - war sie immerhin mäßig. Man tat genug, das Ausscheiden zu verhindern.

Wo aber, frei von solchen historischen Lähmungen, Zeichen zu setzen waren: im Auftaktspiel gegen Polen war die Mannschaft läuferisch voll da. Sehr gut aber nur da, wo der Gegner klar favorisiert war: gegen Portugal. Gegen die Türkei fühlten sich die Deutschen favorisiert, mit (beinah) fatalen Folgen. Die Türken, im Aufwind des "ersatzgeschwächten" Underdogs, liefen den Deutschen den Schneid ab und hätten, gäbe es Gerechtigkeit im Fußball, gewonnen. So wie sie dreimal vorher, gäbe es Gerechtigkeit im Fußball, verloren hätten, gegen die Schweiz, gegen Tschechien, gegen Kroatien.

Für das Finale sind die Spanier nach ihrer großen zweiten Halbzeit gegen Russland favorisiert. Besseres kann Löws Team nicht passieren. Denn genau das heißt ja Turniermannschaft: psychisch angemessen zu reagieren auf die jeweils anstehende Situation. Sportschreiber, verdorben von Boris Becker und anderen einschlägigen Theoretikern der Leibesübungen, nennen das in der Regel "mental", was Quatsch ist.

Weder bei Tennisspielern noch bei Fußballern sitzt die Psyche "im Kopf". Sie ist eine Ganzkörperangelegenheit; und ihre ganzen Körper im nötigen Tempo über den Platz zu schleppen, hatten die Über-Deutschen gegen die Unter-Türken die schwersten Probleme. Gegen die Spanier werden sie recht munter springen. Lahms Siegtreffer: eine reine Psychoaktion. Mit der Gewissheit in den Beinen, den türkischen Ausgleich mitverschuldet zu haben, stürmte er über den ganzen Platz und machte das Ding rein. Psychisch der Größte; so gut wie ein Türke.

Erkenntnis zwei: Mit zwei, drei schnellen Spielzügen nach Balleroberung überfallartig im gegnerischen Strafraum aufzutauchen, ist nicht immer das Rezept zum Tor. Die Spanier zeigten gegen Russland, wie das modifiziert werden kann. Ihr Führungstor fiel nach 15 eigenen Ballberührungen. Der Ball war dabei nicht erobert worden, er kam vom eigenen Torwart. Kein langer Abschlag, sondern kurz zugeworfen. Die Spanier schoben den Ball in der eigenen Hälfte hin und her; "Ballstaffetten" kann man das nicht nennen. Sie verwalteten ihren Ballbesitz. Bei der zwölften Ballberührung war der Ball immer noch an der Mittellinie. Die Russen sahen dem zu, griffen nicht an oder ein. Das war ihr Fehler. Sie gerieten ins Statische, standen herum. Dann der plötzliche spanische Angriff: Ballberührung 13: Mitte der gegnerischen Hälfte; raus aus dem linken Flügel: Nr. 14, flach und scharf nach innen geflankt: Nr. 15, eine einzige Berührung, Tor. Also die (nun schon mehrfache) Kopie des Poldi-Schweini-Tors gegen Portugal. Ein echtes Tormodell. Das spanische Tor selbst fiel also doch überfallartig über nur drei Stationen, blitzschnell, nach vorheriger Einschläferung des Gegners. Die Spanier wissen also, wovon sie reden, wenn sie in punkto Ballbesitz vorn liegen möchten. Das ist keine statistische Angelegenheit bei ihnen, sondern eine taktische.

Alle Tore der Spanier beim 3:0 gegen Russland fielen nach schnellen Spielzügen in die Spitze, bei jeweils wechselndem Vollstrecker. Ausgespielt wurde jeweils die unbeweglich gemachte russische Innenverteidigung. Auf Metzelder und Mertesacker kommt also einiges zu im Finale. Mit dem im Spiel gegen die Türken (teils) gezeigten Phlegma wird Metzelder zur absehbarsten Schwachstelle. Das werden die Spanier gesehen haben, aber auch Löw und seine Scouts.

Ebenfalls - und das hatten auch die Türken schon gesehen - wurde einmal mehr klar, dass man Arne Friedrich auf der rechten Außenbahn mit dem Ball ruhig laufen lassen kann; seine Flanken landen eh beim Gegner oder im Niemandsland. Ich glaube nicht, dass Jogis Jungs sich gegen die von Aragonés einen derart lahmenden rechten Flügel leisten können. Mal sehen, ob da aufstellungsmäßig was passiert.

Prognosen sonst? Bei Endspielen nicht möglich. Beide Mannschaften sind noch gut bei Kräften und auch sonst gut drauf. Dank neuer Regel sitzen die Besten nicht gelb gesperrt auf Bänken. Ich trau mich, zu sagen: Das Finale wird eins vom Feinsten.

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