Marx, der Mathematiker

TAGUNG Die Internationale Marx-Engels-Stiftung (IMES) hat eine Marx-Engels-Gesamtausgabe in Angriff genommen, die editorischer und philologischer Prüfung standhält. Zum Abschluss der „Kapital“-Abteilung des Projekts lud sie in die Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Mitarbeiter sind zurückhaltende Wissenschaftler, die ihren Scharfsinn und ihre stupende Technik nicht an die große Glocke hängen

Der Titel der gut besuchten Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin hört sich etwas paradox, ja rätselhaft an: „‚Das Kapital‘ von Karl Marx. Zur vollendeten Edition eines unvollendeten Projektes“. Für Generationen von Marxlesern galten die drei Bände von Marx’ „Kapital“, die zwischen 1867 und 1894 erschienen sind, als Marx’ Haupt- und Schlüsselwerk. Marx starb 1883 und Friedrich Engels „vollendete“ das Werk seines Freundes. Nach der Oktoberrevolution von 1917 und der Errichtung der „Volksdemokratien“ in Osteuropa nach 1945 taten die dortigen Regimes alles, um diese Lesart des „Kapitals“ als „Bibel“ zu kanonisieren.

Westliche Marxisten zweifelten zwar früh an dieser Interpretation, aber sie hatten keinen präzisen Einblick in die Redaktionsarbeit von Engels und schon gar nicht in die Marx’schen Manuskripte. Die zuverlässigen „blauen Bände“ der „Marx-Engels-Werkausgabe“ (MEW), die auf Vorarbeiten beruht, die in Moskau noch unter Stalins Regime gemacht wurden, präsentierte zwar einen soliden wissenschaftlichen Text, aber eben nicht den, den Marx hinterlassen hat, sondern einen, der zur Konstruktion des „Kapitals“ als entsprechender Schlussstein in der Kuppel des Doms des „Marxismus-Leninismus“ passte.

In unvorstellbar komplizierter Kleinarbeit arbeiteten seit 1972 bis 1990 Sozialwissenschaftler zunächst in Berlin und Moskau an der Pulverisierung dieser Konstruktion. Auf der Basis der vorliegenden Marx- und Engels- Manuskripte konzipierte die neue MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe), die erstmals enthalten sollte, was Marx gesagt und hinterlassen hat – einen Rohbau.

Das Ergebnis dieser Editionsarbeit, die seit 1990 von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) weltweit koordiniert wird, ist eben abgeschlossen worden. Die an der MEGA beteiligten Institutionen – die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, das Russländische Staatliche Archiv für Sozial- und Politikgeschichte (RGASPI) in Moskau, das Internationale Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und Arbeitsstellen an den Universitäten Sendai und Tokio in Japan sehen im „Kapital“ kein abgeschlossenes Werk mehr, sondern einen riesigen Berg von Textfragmenten und Entwürfen.

In der mustergültigen wissenschaftlichen Aufarbeitung der MEGA umfasst das „Kapital“ heute 15 Bände in 22 Teilbänden auf rund 12.000 Seiten. Editionsarbeit findet im Stillen statt und ist unspektakulär. Die Mitarbeiter sind zurückhaltende Wissenschaftler, die ihre minutiöse Kleinarbeit, ihren Scharfsinn und ihre stupende Technik (die im Falle von Marx schon beim Entziffern der fast unleserlichen Handschrift beginnt) nicht an die große Glocke hängen.

Der Hallenser Politikwissenschaftler Harald Bluhm moderierte die Tagung zur „vollendeten Edition des unvollendeten Projekts“ souverän. Wie die Konzeption des „Kapitals“ ausgesehen haben könnte, legten MEGA-Mitarbeiter mit Kurzreferaten über die kniffligen Probleme ihrer Arbeit an den Textfragmenten dar.

Der Marxkenner Thomas Kuczynski und der Politikwissenschaftler Michael Heinrich kommentierten die abgeschlossene Edition, die die wissenschaftliche Beschäftigung mit Marx auf eine neue Basis stellt. Carl-Erich Vollgraf von der MEGA-Redaktion zeigte, dass Marx’ intensive Beschäftigung mit Mathematik keine Marotte war, sondern der Versuch, die Mathematik auf ökonomische Probleme anzuwenden – also bereits das zu tun, was Neoricardianer heute als ihr Verdienst beanspruchen.

In die Druckfassung hat Marx seine mathematischen Überlegungen nicht aufgenommen, aber in der MEGA kann man ihre Bedeutung und ihren Kontext genau überprüfen. Rolf Hecker arbeitet seit über 30 Jahren an der MEGA mit und beschäftigte sich auch mit der redaktionellen Arbeit von Engels, die nun mit einem Variantenverzeichnis minutiös zu überprüfen ist. Es geht um rund 5.000 Textänderungen allein im 2. Band des „Kapitals“. Auch Regina Rothe befasste sich mit Engels’ Arbeit am dritten Band des „Kapitals“ und belegte zum Beispiel, dass Engels das Wort „Zusammenbruch“ in den Text einfügte, woraus Sozialdemokraten um die Jahrhundertwende die Marx’sche „Zusammenbruchstheorie“ konstruierten. Teinosuke Otani (Sendai) und Ljudmila Vasina (Moskau) dokumentierten die eminent wichtigen Beiträge ihrer Institute zum Abschluss der Edition. Das ist eine bewundernswürdige kulturpolitische Leistung, die nur zustande kam, weil der internationale Sachverstand zugleich gebündelt und arbeitsteilig koordiniert wurde. RUDOLF WALTHER