Kinderarzt zum Tschernobyl-Jahrestag: "AKWs werden verharmlost"

Dass die Regierung den Zusammenhang zwischen Leukämie und Radioaktivität noch immer leugnet, ist ein Skandal, sagt der Kinderarzt Winfrid Eisenberg.

Der Unglücksreaktor in Tschernobyl. Der Supergau am 26. April 1986 zerstörte den Reaktorblock 4. Bild: dpa

taz: Herr Eisenberg, wo waren Sie, als Sie vom Reaktorunfall in Tschernobyl erfuhren?

Winfrid Eisenberg: Wir wohnten damals mit unseren vier Kindern in Herford in Nordrhein-Westfalen. Als wir die Nachricht erhielten, hatten wir natürlich sofort Sorge um die Kinder generell und um unsere im Besonderen.

Winfrid Eisenberg, 72, ist Facharzt für Kinderheilkunde. Bis zum vergangenen Jahr war er Vorstandsmitglied bei IPPNW, der Vereinigung Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs. Von 1984 bis 2002 leitete Eisenberg die Kinder- und Jugendklinik am Klinikum Herford, davor arbeitete er drei Jahre als Arzt in Tansania. Der Arzt engagiert sich im Kinderschutzbund und hat selbst vier erwachsene Kinder.

Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert?

Ich war als Kinderarzt genauso hilflos wie alle anderen. Aber ich habe die Hilflosigkeit umgesetzt in eine gewisse Aktivität. Ich habe zwei Wochen Urlaub genommen, bin mit Vorträgen für die Elterninitiativen praktisch in ganz NRW umhergereist und habe, soweit ich es konnte, Informationen und Ratschläge gegeben.

Wie haben Sie die Reaktion der Politik erlebt?

Die Regierung hat nicht angemessen auf die tatsächliche Gefährdung reagiert. Sie hat zum Beispiel die erlaubten Grenzwerte in Salat oder in Milch höher gesetzt, damit der Handel nicht zum Erliegen kommt. Das beschreibt ja nicht tatsächlich die Gefährdung.

Herrscht inzwischen über die Gesundheitsgefahr Klarheit, die im Alltag von AKWs ausgeht?

Seit Ende 2007 ist sie erwiesen - mit Veröffentlichung der Studie "Krebs im Umkreis von Atomkraftwerken" im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz. Diese Studie belegt zweifelsfrei, dass Kinder unter fünf Jahren, die näher an einem Atomkraftwerk leben, eher Leukämie oder eine andere Krebsart entwickeln als andere Kinder.

Warum sagen die Autoren der Studie, die Strahlung der Kraftwerke könne nicht Ursache der hohen Krebsrate sein?

Diese Schlussfolgerung ist nicht seriös. Man kann sogar in zwei Punkten von Täuschung sprechen: So hat das Forschungsteam die Bevölkerung in einem Umkreis von bis zu 50 Kilometern untersucht. Als sie die Studie vorstellte, ist sie aber nur auf die Ergebnisse im engsten untersuchten Radius von fünf Kilometern eingegangen. Den größten Teil der untersuchten Gruppe hat sie einfach weggelassen. Außerdem haben sich die Wissenschaftler später quasi von ihrer eigenen Versuchsanordnung distanziert - nur, um keine verwertbaren Ergebnisse präsentieren zu müssen.

Umweltminister Sigmar Gabriel sagt, eine mindestens 1.000fach höhere Strahlendosis sei erforderlich, um die Zahl der Erkrankungen zu erklären…

Da ist er dem Team der Studie auf den Leim gegangen. Die sogenannten Grenzwerte richten sich nach dem, was angeblich ein gesunder Erwachsender verträgt. Kinder reagieren viel sensibler auf Strahlung. Dass dies nicht berücksichtigt wird, ist ein Skandal.

Ein unabhängiges Expertenteam hat die Studie überprüft. Das Bundesamt für Strahlenschutz hält die Ergebnisse zurück. Wieso?

Ich denke, dass da Fakten zum Vorschein kommen, die der Atomindustrie schaden würden. Und dass die mit der Politik in vielfältiger Weise verbandelt ist, ist ja bekannt. Aber die Sperre ist in einer Demokratie ein Unding.

Warum befasst sich die Studie nur mit Kindern?

Solange ein Mensch wächst, ist die Zellteilungsrate höher. Zellen in Teilung sind aber besonders empfindlich für Strahlung. Dazu kommt: Erwachsene können veränderte Zellen erkennen und reparieren, das können Kinder noch nicht in ausreichendem Maße. Außerdem bauen Kinder ihren Körper auf. Etwa Strontium 90, das dem Calcium ähnlich ist, wird daher besonders leicht in die Knochen eingebaut und strahlt über Jahre in das Knochenmark.

Ist Leukämie für ein Kind heute noch automatisch ein Todesurteil?

Nein, anders als vor 20 oder 30 Jahren werden heute 80 Prozent aller Fälle geheilt. Das ist zwar erfreulich. Doch geheilt heißt zunächst mal, die Kinder erreichen das fünfte Jahr nach der Erkrankung. Ob das dauerhaft ist, ob ein Sekundärkarzinom schon aufgrund der aggressiven Behandlung erfolgt, das ist eine andere Frage.

Was bedeutet die Nachricht einer Leukämieerkrankung für die betroffenen Familien?

Diese Diagnose Eltern mitteilen zu müssen, löst immer einen Schock aus und verändert das Leben der Betroffenen in ganz ungeahntem Ausmaß. Die aggressive Therapie ist - auch wenn sie am Ende zu einer Heilung führt - sehr einschneidend. Den Kindern geht es schlecht mit den Chemotherapien, sie müssen zahlreiche Knochenmarkspunktionen und Blutentnahmen über sich ergehen lassen, sie verlieren die Haare, sie leiden unter Übelkeit … Wir Kinderärzte verbitten uns einfach, diese Krankheit in Zusammenhang mit der radioaktiven Strahlung in einer Weise zu verharmlosen, die Eltern und Kindern gegenüber zynisch und unverantwortlich ist.

Würden Sie Familien, die im Umkreis von Atomkraftwerken leben, raten, wegzuziehen?

Das ist eine gute Frage. Wir Kinderärzte wollen jetzt keine Panik verursachen. Aber ich möchte schon die Frage an Verantwortliche der Atomindustrie stellen, ob sie mit ihren Kindern gerne da wohnen würden.

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