„Die Natur dankt es mit einer liebevollen Antwort“

DER BODYBUILDER 1964 war er Mister Universum, zwei Jahre später trainierte Leopold „Poldi“ Merc in seinem Charlottenburger Studio den späteren Weltstar Arnold Schwarzenegger. Alkohol und Nikotin hat der 80-Jährige stets abgelehnt, Anabolika aber hat Merc probiert. Heute geht er „höchstens bis 60 Kilo“

■ Der Pionier: Merc, Jahrgang 1932, gilt neben dem Berliner Reinhard Smolana als Vorreiter des Bodybuildings in Deutschland. Seit 1958 nahm er an Wettbewerben teil, 1964 wurde er zum Mister Universum gekürt. In seinem Charlottenburger Bodybuilding-Studio begrüßte er unter anderem Arnold Schwarzenegger und Götz George. Insgesamt hat er nach eigenen Angaben etwa 35.000 bis 40.000 Menschen trainiert.

■ Der Mensch: In Graz und Wien aufgewachsen, kommt Merc als 23-Jähriger nach Berlin. Zunächst lebte er in Charlottenburg, heute wohnt er mit seiner Lebensgefährtin in Reinickendorf.

■ Die Zitatmaschine: Goethe, Schiller, Heine – Merc hat sie alle drauf und zaubert Verse aus der Tasche. Von seiner Mutter übernahm er das Diktum: „Pflege dich zu Kraft und Schönheit.“ Vom spanischen Philosophen Ortega y Gasset zitiert er: „Man strengt sich an im Leben, um es leicht zu haben.“ In der U-Bahn trägt er Büchlein mit lateinischen Zitaten mit sich herum. Auch eigene Weisheiten gibt er seinen Mitmenschen auf den Weg: „Der Sport macht die Herzen weicher.“

INTERVIEW JENS UTHOFF
FOTOS ANJA WEBER

taz: Herr Merc, haben Sie heute schon auf der Hantelbank gesessen?

Poldi Merc: Ja, an zwei Tagen in der Woche trainiere ich immer noch. Dann nehme ich mir Zeit für meinen Körper, damit er gelockert wird und biegsam. So ist er dann den Alltagsbewegungen mühelos gewachsen. Bodybuilding ist nichts anderes als eine Abhärtung der Natur. So ist er gewappnet gegen den Alltagsstress.

Wann trainieren Sie?

Ich bin um 5.30 Uhr auf und lasse mir Zeit. Bis ich mit dem Training beginne, ist es 9 Uhr. Dann bin ich aber auch bis 14 Uhr zugange. Bei Wilhelm Busch heißt es: „Mit kühnem Mut aus seinem Bett / schwingt sich der Turner Hoppenstedt.“ Wenn der Mensch jung ist, kann er das leisten. Bei mir dauert es.

Welche Muskeln trainieren Sie hier im Heimtraining besonders?

Mir geht es in erster Linie darum, mich gesund zu erhalten – nicht mehr um das Training bestimmter Muskelgruppen. Ich mache nur noch leichte Übungen. Die Natur sollte nie vergewaltigt werden. Ich gebe der Natur einen leichten Schubser, dann dankt sie es mit einer liebevollen Antwort des Erfolgs.

Kennen Sie alle Muskeln des Körpers mit medizinischem Namen?

Die Muskeln, die den Bewegungsapparat betreffen, das sind etwa 350, kenne ich alle. Man muss als Bodybuilder ja wissen, welcher Muskel für welche Übung zuständig ist. Das sind aber oft Gruppen, es gibt nie einen Einzelnen, der agiert. Der Mensch muss immer als Ganzes betrachtet werden.

Ist Bodybuilding im Alter tatsächlich noch zu empfehlen?

Man ist heute aufgeschlossener bezüglich des Sporttreibens im Alter. Wenn ein Mensch heute an einer gesunden Lebensweise interessiert ist, dann hat er alle Möglichkeiten. Leichte Übungen im Alter sind kein Problem. Der Hochleistungssport im Alter aber ist eine Überforderung der Natur. Neulich habe ich gesehen, dass in Indien ein 100-Jähriger einen Marathon gelaufen ist. Er hat es geschafft, in acht Stunden. Aber empfehlenswert ist es nicht – das gilt überhaupt für Übungen, die das körperliche Potenzial übersteigen. Es gibt auch Leute in meinem Alter, die noch 100 Kilo drücken. Das ist enorm und reine Glückssache. Dann kann man mit dem Tag rechnen, an dem der Körper nicht mehr mitmacht.

Sie sind 80 Jahre alt – wie empfinden Sie es, wenn Körper und Geist nachlassen?

Die Natur gibt uns Gesetze vor, vom Menschen nimmt sie aber keine an. Auch Blumen blühen, gedeihen und verwelken. Ich handle das so, indem ich mit sehr leichten Übungen anfange und nichts erzwinge. So macht das Training Freude, weil man dem Körper nichts aufoktroyiert. Überlastung würde diese Freude verderben. Natürlich, heute kommt vielleicht nicht einmal ein Viertel dessen zustande, was ich mit 30 Jahren gehoben habe, aber das ist nicht schlimm. Derzeit arbeite ich mit einer Langhantel, die 20 Kilo wiegt. Ich gehe höchstens bis 60 Kilo. Ich will ja nur der Gesundheit dienen und jeden Tag beschwerdefrei erleben.

Wie hat Ihnen der Sport im Verlauf des Lebens dabei geholfen?

Der Körper gewöhnt sich ja so an Belastungen. Früher habe ich sechsmal die Woche trainiert, im täglichen Wechsel Ober- und Unterkörper. Das prägt einen Menschen, und es braucht eine gute Ernährung, um diese Leistungen zu vollbringen. Das hieß für uns damals, sich gesund zu ernähren und uns aller Gifte zu enthalten wie zum Beispiel Nikotin und Alkohol.

Haben Sie das bis heute so fortgeführt?

Ja. Viele würden das als Zumutung empfinden, denn man möchte ja vom Leben etwas haben. Ich habe auch gut gelebt, aber immer einer vernünftigen Lebensweise den Vorzug gegeben. Mit der Zeit wird das so zur Gewohnheit, dass man nichts mehr entbehrt.

Sie sind belesen, zitieren Dichter und beherrschen acht Sprachen. Wo haben Sie sich dieses Wissen angeeignet?

Aus den Büchern. Die medizinische Bildung habe ich mir autodidaktisch angeeignet. Eigentlich wollte ich auch mal Arzt werden. Später wollte ich noch Parlamentsstenograf, dann Dolmetscher werden. Ich ging dann auf die Wiener Dolmetscherakademie. Dort habe ich Italienisch und Französisch gelernt und mein Englisch verbessert. Später habe ich mir Spanisch und Portugiesisch selbst angeeignet. Und dann hatte ich auch noch eine schöne Sopranstimme, war früh bei den Wiener Sängerknaben. Meine Stimme klang wie die von berühmten Opernsängerinnen. Aber nach dem Stimmbruch klang sie dann nicht mehr so gut.

Vom Äußeren würde man Sie tatsächlich eher in einer italienischen Oper vermuten. Wie kamen Sie zum Bodybuilding?Nach dem Stimmbruch sang ich nur noch ganz gut, aber nicht mehr herausragend, also blieb ich Amateur. Und auch was das Dolmetschen betrifft, kann man sagen: Schön ist diese Kunst, allein: Uns bringt sie zu wenig ein. Ich wollte einen Beruf haben, in dem ich mich wohlfühle, mit dem ich der Menschheit was bieten kann und bei dem ich gleichzeitig gesund bleibe. Da lag das Bodybuilding-Studio nahe. Kurz nach dem Krieg hat ein Freund in Wien Magazine von der US-amerikanischen Besatzungsmacht bekommen. Damals ging es los mit Muskelmännern und Mister America und so. Das hat uns mächtig imponiert. Wir haben diese Zeitschriften aufgesaugt und fingen an zu trainieren. Ich hatte dann damals in Wien auch das Glück, für die US-Amerikaner arbeiten zu dürfen. Bei dieser Arbeit gab es schon einen Hantelraum.

Was führte Sie dann nach Berlin?

1955 kam ich nach Berlin, 1956 gründeten wir das Studio. Gino Giuliani, ein Freund, ging zuvor nach Berlin. Er beklagte sich, es gebe in Berlin kein Studio zum Trainieren. Er sagte: „Poldi, komm nach Berlin, wir machen ein Studio auf.“

Und so kam es auch?

Ja, zunächst waren wir in der Bleibtreustraße nahe dem Ku’damm. Und im Nu haben sich die Leute für Bodybuilding interessiert. Ab Anfang der 60er ging Giuliani nach München, und ich habe das Studio allein geführt. Am längsten hatte ich das Bodybuilding-Studio in der Grolmannstraße in Charlottenburg, dort war ich von 1961 bis zum Schluss, 1993.

Und ganz nebenbei wurden Sie Mister Universum.

Erst wurde ich in Paris Mister Europa und dann im September 1964 Mister Universum in London. Einen Contest zu gewinnen, da gehört aber auch ein Quantum Glück dazu.

Ging es dabei nur um Muskeln in der Wertung?

Es gab auch das Kriterium General Appearance, allgemeine Erscheinung. Gewonnen hat immer der, der die wenigsten Nachteile hatte. Es gibt keinen Körper ohne Nachteile. Im Sinne der Symmetrie, der Proportionen ist jeder Körper anders, auch der Stoffwechsel ist bei jedem anders. Aber mit Übungen und fleißigem Training hilft man nach und bildet den Körper aus.

Wirkten Sie damals eigentlich auch so aufgepumpt wie die Profi-Bodybuilder heute?

Nein. Heute gibt es Leute in meiner Größe, 1,72 Meter, die 120 Kilogramm wiegen. Das ist mächtiges Übergewicht. Das bedeutet auch eine Überforderung des gesamten Herz-Kreislauf-Systems. Den jungen Bodybuildern heute scheint es nicht um Gesundheit zu gehen.

Wie war das nach Ihrem Triumph: Waren Sie sehr gefragt als Mister Universum?

Nein, das war damals ein Sport, der scheel angeguckt wurde, ähnlich wie Boxen. Bodybuilding war eine Domäne des Arbeiters, des kleinen Bürgers. Die High Society hat das nicht akzeptiert. Das kam erst mit Schwarzenegger …

den Sie trainiert haben!

Ja, 1966 kam Arnold Schwarzenegger zu mir. Wir lernten uns kennen, haben uns gut verstanden und angefreundet. Arnold konnte von Berlin auch direkt zum Mister-Europa-Contest nach London fahren und gewann dort. Dann ging er nach US-Amerika und startete richtig durch. Als er hinüberging, haben wir uns aber schon wieder aus den Augen verloren.

War damals schon abzusehen, was aus ihm werden sollte?

Der war schon unglaublich in seiner Dimension. Für die damalige Zeit eine Sensation, heute wäre er wieder unter ferner liefen. Der Arnold war den anderen in seiner Entwicklung weit voraus.

Heute kann man mit Bodybuilding viel Geld verdienen, Sie konnten das als Mister Universum damals nicht. Ärgern Sie sich manchmal, zur falschen Zeit gekommen zu sein?

Nein, ich hatte nie das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Ich war zufrieden. Ich hatte meine Sportschule, bin bis heute gesund geblieben. Heute bekommt der Mister Olympia in den USA 250.000 Dollar. Wir haben damals einen Pokal bekommen. Wir mussten die Anfahrt selbst bezahlen.

Sie haben die erste Anabolika-Welle erlebt – und das Zeug auch genommen.

Ja. Die erste Welle der Anabolika kam Mitte der 60er Jahre. Die Jungs, die bei mir trainiert haben, haben mich gefragt, was von dem Zeug zu halten ist. Die Muskulatur sprach darauf an, man hatte enormen Kräftezuwachs und Muskelaufbau. Nach drei Monaten haben wir es abgesetzt, und ich habe geschaut, ob man das Erreichte auf natürliche Weise erhalten kann. Es fiel alles zusammen wie ein Kartenhaus bei gleichem Trainingsaufwand. Hieß also: Doping. Man hätte das die ganze Zeit einnehmen müssen. Das war das letzte Mal, dass ich damit in Berührung kam.

Sie wussten damals gar nichts über den Wirkstoff?

Ich habe schon die Anabolika-Kolloquien studiert, aber die Ärzte waren sich ja damals alles andere als einig über die Wirksamkeit. Einige sagten, es komme zu überhaupt keinem Muskelzuwachs. Das stimmte ja nicht. Ich wollte es wissen. Aber wenn die Skelettmuskulatur zum Wachstum angeregt wird, kommt es zu einer Herzvergrößerung, und die Herzklappenfunktion ist dadurch gefährdet. Das hat Meister Schwarzenegger ja erlebt, der hat ja eine schwere Herzoperation mit Glück überstanden. Heute würde er auch sagen, dass es gefährlich ist.

Hätten Sie jemals gedacht, dass es mal Fitnessstudios an jeder Ecke geben würde?

„Eitelkeit gehört dazu. Es gibt ja Menschen, die überhaupt nicht eitel sind. Dass sie zu beneiden sind, bezweifle ich“

Los ging es Mitte der Achtziger. Da schoss in Berlin ein Studio nach dem anderen aus dem Boden. Aber das waren Millionenobjekte. Da konnte ich mit meinen 150 Quadratmetern nicht mehr mithalten. Meine Geräte waren veraltet. Irgendwann kam ein junger Mann, der mir einen Gruß von seiner Oma ausrichtete – die habe auch schon bei mir trainiert. Da hab ich mir gedacht: „Jetzt kannst du langsam Schluss machen.“ Nach dem Mauerfall wurde ich durch die Mietsteigerungen ohnehin gezwungen zu schließen. Und dann ging die Fitnesswelle los. Sehr vernünftig, denn Fitness ist ja im Grunde nichts anderes als Soft-Bodybuilding. Für jeden Muskel haben die Studios heute eine Maschine.

Nicht jeder scheint zu wissen, was er mit seinem Körper tut. Wie wichtig ist das Zusammenspiel von Bildung und Sport?

Es gibt schon, etwa bei den Leichtathleten, sehr gebildete Menschen, die auch viel über ihren Körper wissen. Es ist auch eine Frage des Interesses. Mir ist die geistige Konzentration auf die eigene Vitalität wichtig. Der Gesundheitsstatus verfolgt den Menschen von der Wiege bis ins Grab. Sich zumindest ein bisschen dafür zu interessieren, wäre die Pflicht eines jeden Menschen. Das unterscheidet ihn ja vom Tier.

Welche Rolle spielt der Spaß dabei? Die Herkunft des Begriffs Sport legt eine Übersetzung wie „Zerstreuung“ nahe.

Aus dem spätlateinischen disportare – enthalten und sich zerstreuen – ist der Begriff Sport entstanden. Im Leistungssport ist die Enthaltsamkeit von den Giften des Lebens gefragt. Aber es sollte natürlich auch den Sinn machen, dass der Mensch sich nach getaner Arbeit an Dingen erfreut, dass er Spaß hat.

Wie wichtig sind Schönheit und Eitelkeit beim Sport?

Eitelkeit gehört dazu. Es gibt ja Menschen, die überhaupt nicht eitel sind. Dass sie zu beneiden sind, bezweifle ich. Ich möchte doch so erscheinen, dass ich von der Gesellschaft angenommen werde. Aber über Schönheitsideale waren sich schon Goethe und Schiller nicht einig. Eine objektive Beurteilung von Schönheit ist schwierig, das ist meist subjektive Wertung. Nehmen Sie doch die Nofretete: Da sagen vielleicht viele auch: So möchte ich nicht aussehen. De gustibus disputandum est: Über Geschmack lässt sich streiten.

Warum ist Berlin nach Ihrem Geschmack?

Ich hätte mir früher nicht träumen lassen, einmal in Berlin zu wohnen. Als Kind kannte ich Bilder von Berlin als zerbombte Stadt, das habe ich, damals in Graz wohnend, mitbekommen. 1947 war ich mit den Sängerknaben zum ersten Mal hier, da sind wir in der Neuen Welt in der Hasenheide und in der Kirche am Südstern aufgetreten. Damals haben wir mit den Wiener Sängerknaben eine ganze Deutschlandreise gemacht. Nun bin ich seit 56 Jahren in Berlin, und ich genieße diese Stadt. Die Stadt zeichnet sich durch Großzügigkeit, durch liebenswerte Menschen aus.

Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht trainieren?

Ich gebe anderen Senioren Unterricht. Ich habe ein Trainingsprogramm für alle Muskeln entwickelt, bei dem man ganz ohne Geräte auskommt und das man überall durchführen kann. Ein Ehepaar trainiert mit mir zusammen Geist und Körper, indem wir zusätzlich Sprachübersetzungen vornehmen.

Das klingt nicht, als würden Sie auch manchmal Faulenzen.

Also bei den Griechen galt ja die geistige Tätigkeit schon als Muße. Wenn ich nicht körperlich aktiv bin, versuche ich, geistig aktiv zu sein. Ich mag das Prinzip des lebenslangen Lernens.

Und was ist mit Ihrer frühen Leidenschaft, dem Gesang?

Nein, da bin ich eher der rezeptive Ästhetiker mittlerweile.