Russische Stadt vor den Wahlen: "Politisches Leben gibt es nicht mehr"

Im Straßenbild nur vereinzelte Putin-Plakate: In der ehemals geschlossenen Stadt Stupino findet der Wahlkampf hinter verschlossenen Türen statt.

So große Wahlwerbeplakate gibt es in Stupino nicht. Bild: dpa

STUPINO taz "Im Glauben sind wir stark, an Taten ruhmreich", steht auf dem Sockel des Denkmals mit dem aufsteigendem Kampfjet am Ortseingang von Stupino. Die Stadt liegt hundert Kilometer südlich von Moskau und war in sowjetischen Zeiten für Ausländer nicht zugänglich und auch nicht leicht zu finden. Keine Landkarte verzeichnete die geschlossene Kommune.

Acht der elf Parteien, die am Sonntag antreten, sind auch in Stupino vertreten. Im Stadtbild ist das allerdings kaum zu erkennen. Es gibt keine Plakate und auch keine Aktivisten, die um die WählerInnen werben. Nur hier und da hängt ein überdimensionaler Wladimir Putin: Ein Porträt mit Häkchen im Kästchen 10. Das reicht, um die Botschaft an die Wähler zu bringen.

In den geheimen Rüstungs- und Kosmoslabors Stupinos forschten einst die besten Wissenschaftler der UdSSR. Die Bevölkerung lebte unter paradiesischen Bedingungen. Aber mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 geriet der Rüstungssektor ins Straucheln. Die wissenschaftliche Vorhut wurde nicht mehr gebraucht und verarmte. Dutzende geschlossene Städte in Russland hatten ein ähnliches Schicksal, nur wenige haben sich davon erholt. Stupino ist eine der seltenen Ausnahmen, die Stadt mit 70.000 Einwohnern boomt. "Seit drei Jahren belegen wir in der Leistungsbilanz im Moskauer Umland den ersten Platz", meint Vizebürgermeister Alexander Razimor. Ob bei Investitionen, Produktionsausstoß oder Aufwendungen für Bildung - Stupino führt.

Razimor ist Mitglied der Kreml-Partei Vereinigtes Russland. Auch Bürgermeister Pawel Tschelpan trat der Partei bei. Wer in Politik und Wirtschaft mitmischen möchte, kommt an der neuen Staatspartei nicht mehr vorbei. Tschelpan gilt als Kopf des Wirtschaftswunders und regiert Stupino schon seit 21 Jahren. In den 80er-Jahren war er Mitglied der früheren Staatspartei KPdSU. Das Fundament für den Erfolg legte er indes Mitte der 90er-Jahre, als Russland ohne Staatspartei auskam. Damals wählten ihn die Bürger auch zu ihrem "Mer".

Der Aufschwung ist der Ansiedlung ausländischer Unternehmen zu verdanken. Den Anfang machte der US-Süßwarenkonzern Mars. Wer in dem Werk arbeitet, gehört heute zur Elite der Stadt, den "marsiani" - den Marsmenschen, wie sie in Stupino genannt werden. Die Löhne sind doppelt so hoch wie in staatlichen Betrieben. Inzwischen haben sich zehn westliche Konzerne niedergelassen.

"Die Menschen in den westlichen Betrieben sehen gesünder aus, sind besser gekleidet und gehen anders ans Leben heran", meint eine Passantin. Auch Razimor sieht nur positive Wirkungen: Es wird weniger getrunken, die Jugend wandert nicht mehr nach Moskau ab und die Geburtenrate steigt.

Stupino ist ein Beispiel für gelungene Ost-West-Kooperation. Das gibt auch der Stadtvize zu. Dennoch machen die VR und Präsident Putin Wahlkampf mit antiwestlicher Propaganda. Ist das kein Widerspruch? Razimor überlegt lange, sehr lange, er windet sich und weicht schließlich aus. Jedes Wort will überlegt sein. Eine unbedachte Äußerung kann den Posten kosten.

"Wir müssen auf der Straße nicht agitieren", erklärt Razimor schließlich. Das sei der Grund, warum nicht geworben würde. "Natürlich finden Versammlungen in den Arbeitskollektiven statt", sagt er. Eigentlich ist Parteiagitation am Arbeitsplatz nicht zulässig. Doch daran halten sich weder die Verwaltungen noch die staatlichen Betriebe. Vorbild sind die kommunistischen Betriebsstrukturen der Sowjetzeit, sie garantierten soziale Kontrolle auch am Arbeitsplatz.

"In den Staatsbetrieben stehen die Vorgesetzten für das Wahlverhalten der Untergebenen gerade", sagt Maja Prokurekowa von der wirtschaftsliberalen Oppositionspartei SPS. "Jeder hat was zu verlieren: der Angestellte den Arbeitsplatz, der Vorgesetzte die Position. Die Lokalverwaltung muss sich vor den Gouverneuren rechtfertigen, und wenn diese das vorgegebene Wahlergebnis nicht einfahren, werden auch sie vom Kreml abgestraft." Das Prinzip funktioniert, sie hätte nichts mehr zu verlieren, lacht die Rentnerin. Aber auch sie zieht es vor, sich zum Gespräch im Freien zu treffen. "Man weiß ja nie." Ihre Tochter ist in einem Staatsbetrieb angestellt und hat Angst, ihretwegen den Job zu verlieren. Der Druck, am Sonntag die richtige Wahl zu treffen, macht aber auch nicht vor Klein- und Mittelbetrieben halt, erzählt Prokurekowa. Ihnen werde offen mit Lizenzentzug gedroht.

Auch Wladimir Machotin, der seit dem Aufbruch Anfang der 90er-Jahre die demokratische Partei Jabloko vor Ort vertritt, ist misstrauisch. Auch er möchte sich lieber an einem sicheren Ort verabreden. Vor zwei Wochen standen zwei Mitarbeiter der Föderalen Wirtschaftsaufsicht vor seiner Haustür. Jabloko fehlen die Mittel, und so hat er das Büro bei sich zu Hause angemeldet. "Man wollte mich mit dem Besuch ein wenig einschüchtern", sagt Machotin, einer der seltenen, aber typischen Freigeister Russlands, aus denen manchmal ein Märtyrer wird. Sein Leben lang ist der Ex-Stadtverordnete gegen Willkür der Bürokratie angelaufen und bestraft worden. Vor kurzem meldete sich auch der Chef der Wirtschaftsaufsicht noch einmal persönlich bei ihm und verwies auf das verschärfte Extremismusgesetz, erzählt Machotin. Demzufolge kann schon bestraft werden, wer die Arbeit eines Beamten kritisiert.

"Politisches Leben gibt es bei uns nicht mehr", sagt er. Maja Prokurekowa ist noch pessimistischer: "Ob wir wieder in einem totalitären Staat leben, wissen wir einen Tag nach den Wahlen." Dennoch wollen beide nicht kampflos aufgeben. "Im Glauben sind wir stark " steht auf dem Sockel am Ortseingang.

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