Gewalt im Jugendknast: Korrekte und Opfer

Sebastian Göde hat im Jugendgefängnis einen Mithäftling misshandelt. Ein Versuch, zu verstehen, warum er das tat.

Fesseln, schlagen, demütigen – „Es war Spaß“, sagt der Angeklagte. Bild: dpa

Die Hälfte sind Opfer, und dann gibt es noch die Korrekten und die Arschlöcher. Jörn Weller* ist ein Opfer, und glaubt man Sebastian Göde, dann war er das schon, bevor er ihn zusammengeschlagen hat. „Opfer, das ist wie Dumme und Schlaue. Es ist eine Kategorie, wo man reingesetzt wird.“ Nachdem er Jörn Weller zusammengeschlagen hat, ist Sebastian Göde ein paar Tage später noch einmal zu ihm gegangen. Er hat ein paar Kumpels mitgenommen, sie haben Weller in der Dusche der Jugendanstalt gefesselt, mit Essig übergossen und geschlagen. Sebastian Göde findet es lächerlich, dass er deswegen angeklagt wurde.

Wenige Wochen zuvor haben drei Häftlinge in Siegburg einen Mithäftling gefoltert und zum Selbstmord gezwungen. Zu Beginn glaubten die Zeitungen, dass der neue Fall die gleiche Dimension habe. Aber es gab keinen Toten, und allmählich verloren sie das Interesse. „Die Justizministerin und der Oberstaatsanwalt und Schießmichtot haben nur deshalb so ein Halligalli darum gemacht, weil gerade die Scheiße in Siegburg passiert war“, sagt Sebastian Göde. Und dass es alltäglich war, was sie mit Jörn Weller gemacht haben. Aber auch ohne Tote kann man lernen, wie eine Welt funktioniert, in der es nur drei Kategorien von Menschen gibt.

„Was machen wir heute mit ihm?“, sollen ihn die anderen gefragt haben. „Keine Ahnung“, habe er geantwortet. Dann haben sie ihn gepackt, Jönk hat ihn festgehalten, und sie haben ihm mit einem Gürtel die Hände an die Füße gefesselt. „Es war Spaß“, sagt Göde. Weller habe sich nicht gewehrt, im Gegenteil, er habe ja die Arme selbst auf den Rücken gelegt. Beim nächsten Mal trägt Jönk ihn zur Dusche. Laut Anklage legen sie ihn auf den Boden, stellen das Wasser an, schlagen und treten ihn. Wohlers bittet sie, das Wasser wärmer zu stellen. Beim dritten Mal stecken sie ihm eine Socke in den Mund und ziehen ihm eine Unterhose über den Kopf. Als ein Beamter hereinkommt, schieben sie Weller unters Bett. Nach fünfzehn Minuten holen sie ihn wieder hervor. „Idiot“ schreiben sie mit Filzstift auf seine Stirn.

Beim Prozess sitzen die Täter neben den Anwälten in ihren schwarzen Roben und sehen daneben noch jünger und schmächtiger aus, als sie ohnehin sind. Einer von ihnen war bei der Fremdenlegion, gerade ist er Vater geworden, und als die Richterin ihn auffordert, seinen Werdegang zu schildern, bittet er, ihm Fragen zu stellen. Allein könne er das nicht. Jörn Weller ist nicht gekommen. „Angeblich war ja Bahnstreik“, wird Sebastian Göde später dazu sagen. „Zu mir hat er gesagt, dass er keine Aussage machen würde.“ Er sagt, dass er ihn nicht bedroht habe. Aber das war vielleicht auch nicht mehr nötig.

Es sind kaum zehn Besucher beim Prozess. In einer Verhandlungspause kommen die Mutter und der Bruder von Sebastian Göde nach vorne zu ihm. Beide sind blond und mollig, sie haben keine Ähnlichkeit mit Jönk, der muskulös und dunkelhaarig ist. Der Junge hält ihn um die Taille umklammert, während die Mutter dicht dabeisteht, und es sieht beinahe so aus, als suchten sie Schutz bei ihm.

Die Richterin ist eine schmale Frau mit leiser, aber bestimmter Stimme. Sie sagt, dass die Urteile ein letzter Warnschuss seien und vermutlich meint sie damit, dass es Bewährungsstrafen sind. Es ist ein ziemlich später Warnschuss, weil alle Angeklagten schon im Gefängnis waren und es bei jedem mehrere Minuten dauert, die Vorstrafen vorzulesen. Körperverletzung, Diebstahl, das Übliche sozusagen. Einer ist immer wieder Traktor ohne Führerschein gefahren und als ihn eine Polizeistreife zu stoppen versuchte, hat er weiter auf die Beamten zugehalten, die in letzter Sekunde zur Seite springen konnten.

Die Angeklagten erklären, dass sie Jörn Weller misshandelten, weil er schlecht gerochen habe. Außerdem hätte er nicht, wie versprochen, Drogen besorgt. In seinem Schlusswort sagt Göde, dass es eine dumme Aktion gewesen sei. „Es tut mir leid.“ Er bekommt acht Monate Jugendstrafe auf Bewährung. Die Strafe ist höher als die der anderen, weil er eine Zigarette auf der Stirn von Jörn Weller ausdrücken wollte und weil er als einer der Drahtzieher gilt.

Es war eine Auflage des Gerichts, dass Sebastian Göde wieder zu seiner Mutter zieht. Sie leben in einer Mehrfamilienhaussiedlung, vor der Tür liegt eine Fußmatte mit einem kleinen, weißen Hund darauf. Göde ist nicht da. Als er eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit kommt, gibt er einem zur Begrüßung die Hand, er ist freundlich und sehr gelassen. Es gibt keine Fragen, die er nicht beantwortet, und keine, die ihn überraschen.

Als Sebastian Göde zwölf Jahre alt war, fing er mit dem Kiffen an, Kokain kam zwei Jahre später dazu. „Ich bin kein Typ, der überall hingeht und Schulden macht“, sagt er. Also hat er DVDs gestohlen und weiterverkauft, als er mehr Geld brauchte, ist er eingebrochen, danach kamen Überfälle. „Mein Mittäter“, sagt Göde, wenn er davon erzählt, er sagt auch „Zellengenosse“ und dass er wegen „Diebstahl und schwerer Körperverletzung in mehreren Fällen“ das erste Mal in Haft kam. Er klingt wie ein juristischer Experte, er ist es ja auch, ein 18-jähriger Strafrechtsexperte.

Das Opfer sagte aus, Göde habe ihn zusammengeschlagen und mit einem Messer auf ihn eingestochen. Dabei hätte er gar kein Messer benutzt. „Ich habe ihn erst geschlagen, dann hat er mir sein Portemonnaie freiwillig gegeben, dann habe ich ihn weiter geschlagen, bis er mir sein Handy gegeben hat.“

Sebastian Gödes Mutter klopft an die Wohnzimmertür. „Entschuldigung“, sagt sie. „Wollen Sie Eistee oder Wasser?“ „Ich möchte nichts, Mam“, sagt Göde. Er hat jetzt ein schmales Zimmer für sich, links eine Schlafcouch und rechts eine Schrankwand und so aufgeräumt, als sei es ein Gästezimmer. In der Schrankwand steht eine Dose Kakao, weil seine Mutter findet, dass er zu dünn ist. Die Mutter war früher Schneiderin, sie hat bei Karstadt gearbeitet und als Putzfrau. Jetzt ist sie arbeitslos, die Stelle in der Spielhalle, auf die sie gehofft hatte, hat sie nicht bekommen. Seinen Vater hat Göde nie gesehen, er soll im Ausland sein. Die Ehe mit dem Stiefvater ist geschieden. Göde findet nicht, dass seine Familie zu den Opfern gehört. Aber selbst wenn er es täte, wäre etwas damit gewonnen? Dann gäbe es zwei Opfer mehr in seiner Welt, aber sie wäre noch immer die gleiche. Das eigentlich Erschreckende an Sebastian Göde ist ja nicht, dass er irgendwann zuschlägt, weil er nicht weiß, wie er sich sonst wehren soll. Das Erschreckende ist, dass er Jörn Weller, sein Opfer, quält, ohne dass er begreift, dass er quält.

Die Opfer sind in der Welt von Sebastian Göde früh aufgetaucht. Als er 14 war, begann er, Frauen in ihren Wohnungen zu überfallen. Beim ersten Mal passte sein Kumpel nicht auf, sodass die Frau aus dem Fenster springen konnte, während Göde im Bad nach Schmuck suchte. Sie legten es darauf an, die Frauen anzutreffen, weil sie EC-Karte und PIN-Nummer von ihnen haben wollten. „Sie hatten richtig Angst“, sagt Göde. Die Angst hat ihn nicht befriedigt, sie hat ihn auch nicht gestört. „Aber wenn das im Freundeskreis oder in der Familie ist, dann stört mich das gewaltig.“

Als er Jörn Weller zusammenschlug, ging es auch um Familie. Jönk sagt, dass Weller an seine Zellentür geklopft habe, wenn er schlafen wollte, und dass er ihn beschimpft habe „auf übelste Weise“. „Hurensohn“ soll er gesagt haben, „ich fick deine Mutter“ und nicht aufgehört, obwohl Göde ihn warnte. Und dann sei es irgendwann genug gewesen. Man kann Sebastian Göde fragen, ob „ich fick deine Mutter“ nicht mittlerweile nichts mehr bedeute, dass es eine Technik auf dem Fußballplatz geworden sei und wenig mit der eigenen Mutter zu tun habe. Er hört sich das an und sagt: „Jaja, aber ich nehme das persönlich.“

„Du hast nur noch fünf Monate“, sagten die anderen zu ihm und versuchten ihn aufzuhalten, aber er ließ sich nicht aufhalten. „Darauf scheiß ich jetzt, wenn ich durchdrehe, dreh ich durch“, hat er gerufen und ist Jörn Weller hinterhergelaufen, der in seine Zelle gerannt war. „Schließ die Tür auf“, sagte er zu Wellers Zellengenossen, dann ist er hineingegangen und hat ihn zusammengeschlagen. Man kann ihn fragen: „Was bedeutet das, zusammenschlagen?“, und Sebastian Göde beschreibt es geduldig: „Ich habe ihn geschlagen, dann ist er mit der Nase gegen die Fahne gekommen, dann hab ich noch mal zugetreten und bin rausgegangen.“ Noch mal zugetreten habe er, weil er wütend gewesen sei. Die Fahne ist die Sprechanlage in der Jugendanstalt. Als die Beamten kamen, war die Zelle wegen des Nasenblutens voll Blut. Jörn Weller behauptete, er sei ohnmächtig geworden und deshalb auf die Fahne gefallen. Die Beamten glaubten ihm.

„In Moltsfelde ist alles voller Opfer“, sagt Sebastian Göde. Die Leiterin der Jugendanstalt hole all diejenigen dorthin, die in der Jugendvollzugsanstalt Kiel nicht zurechtkämen. Göde war selbst zuerst in Kiel, aber weil seine Mutter ihn besser in Moltsfelde besuchen konnte, ließ er sich verlegen.

Eigentlich wäre es naheliegend, dass Sebastian Göde Jörn Weller zusammengeschlagen hat, weil der es gewagt hat, ihn zu beleidigen. Nicht wegen der Beleidigung selbst. Sondern weil man in einer Jugendanstalt der Hackordnung nicht ausweichen kann und sich deshalb, so man dazu in der Lage ist, einen Platz weit oben sichert. Aber wenn man Sebastian Göde danach fragt, sagt er etwas, was sonderbar angelernt klingt: „Die meisten Gefangenen werden auf ihre Straftaten reduziert.“ Ganz unten stünden die Vergewaltiger. „Selbst die Beamten mögen die nicht.“ Und dann erzählt er die Geschichte von dem jungen Polen, der dem Mann, der seinen kleinen Bruder vergewaltigt hat, die Kehle durchgeschnitten hat.

Seine Freunde haben ihn gefragt, wie es im Gefängnis sei und ob man ihn ausgepeitscht habe. Sie sehen zu viel fern, hat Sebastian Göde gedacht. „Das geht nicht so ab“, hat er geantwortet. „Wir sind hier in Deutschland.“ Er hat gesagt, dass er jeden Tag dasselbe sehe und dasselbe tue. Arbeiten in der Gefängniswerkstatt, erst bei Multi-Metall, dann beim Holz und nach dem Ausbruchversuch, als sie mit einer Heizung das Fenstergitter sprengen wollten, Einschluss in der Zelle. „Lächerlich“, sagt Göde. „Wenn sie uns bestrafen, werden wir ja nicht artig, im Gegenteil, man schiebt noch mehr Hass darauf.“

Er findet in Moltsfelde, was er auch in Kiel gefunden hat: Opfer, Arschlöcher und Korrekte. „Ein Opfer hat keine Freunde, gar nichts. Ein Opfer hängt nur den ganzen Tag auf der Zelle rum und macht nichts.“ Wer Opfer ist, scheint Opfer zu bleiben, Arschlöcher und Korrekte wechseln je nach Perspektive. Arschlöcher melden Häftlinge bei den Beamten, sie sagen, sie hätten keinen Tabak, und sind danach beim Rauchen zu sehen. So erklärt es Sebastian Göde. Was wäre er für Jörn Weller? „Vermutlich ein Arschloch.“

Gemeldet hat die Misshandlungen Nils Jessen, ein Mithäftling. Ein Beamter hat es ihnen versehentlich verraten, aber weil nach den Misshandlungen Einschluss für alle Häftlinge galt, kamen sie nicht an ihn heran. Göde sah ihn erst wieder, als er beim Prozess im Zuschauerraum zuhörte. „Dann kann man ja nix machen“, sagt er.

Am Tag nachdem Sebastian Göde aus der Haft entlassen wurde, hat er sich Anziehsachen und ein Handy gekauft und seine alten Freunde getroffen. Er hat seiner Mutter etwas von den 1.400 Euro Überbrückungsgeld gegeben, die er von der Jugendanstalt bekommen hat. Er hat Arbeit als Zeitungsausträger gefunden, aber nach vier Wochen war ihm das Arbeiten in der Nacht zu viel. Im Dezember fängt er mit einem 1-Euro-Job im Eisenbahnmuseum an. Außerdem arbeitet er jetzt seine Sozialarbeitsstunden ab. „Auf dem Friedhof“, sagt er und lacht. Seitdem Sebastian Göde wieder zu Hause ist, wird sein Bruder nicht mehr gehänselt. Er hilft seiner Mutter im Haushalt, kauft ein, geht mit dem Hund spazieren. Früher hätte er das nicht gemacht.

Seit ein paar Wochen hat er eine Freundin, sie arbeitet bei McDonalds und möchte, soweit er weiß, Friseuse werden. In seinem Zimmer liegt das Buch, das sie gerade liest: „Wenn Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“. Wenn sie sich beschwert, dass er ihr nicht zuhört, wiederholt ihr Sebastian Göde, was sie zuletzt gesagt hat. Sie möchten zusammenziehen und weggehen von zu Hause, wo ihnen zu wenig passiert, in eine größere Stadt, aber nicht wieder nach Flensburg, wo die falschen Freunde wohnen.

Sebastian Göde sagt, dass ihm so etwas wie mit Jörn Weller jetzt nicht mehr passieren würde. „Ich würde mal sagen, dass ich früher hochaggressiv war. Jetzt würde ich mich ja zusammenreißen. Jetzt will ich mich nur noch auf Arbeit und Familie konzentrieren.“ Und wenn ihn jemand beleidigt? „Ich gehe denen aus den Weg. Dann sage ich es ihnen. Wenn das immer noch nicht klappt, dann sind sie selber schuld.“

Auch der Zeuge und das Opfer waren bereit, über die Misshandlungen zu sprechen. Aber dann kommen sie nicht zum Termin und gehen nicht mehr ans Telefon. Zum Schluss schreibt der Zeuge eine E-Mail: „Zudem möchte ich kein Gespräch führen weil ich kein bock auf dem scheiss mit dem Gefängniss habe ich hoffe sie haben verständniss dafür.“

*Alle Namen sind geändert

Friederike Gräff, Jahrgang 1972, ist Redakteurin der taz Nord

Ihr Text „Korrekte und Opfer“ erscheint im taz-magazin am Samstag, den 1. Dezember.

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