Portrait Franz Müntefering: Der letzte Coup des Rätselhaften

Der Rückzug des Vizekanzlers und Arbeitsministers hat alle überrascht. Dabei hielt man bei Franz Müntefering immer alles für möglich: Seine Karriere folgte stets eigenen Gesetzen.

Franz Müntefering: Stratege, Einzelgänger - und kein Kumpeltyp. Bild: dpa

BERLIN taz Franz Müntefering war ein Fremder in der deutschen Politik.

...die Liebe. Frage: Welche Bedeutung hat die Familie für Sie? Antwort Müntefering: Zu wenig Zeit, aber das Zentrum. Dort mache ich einen Schnitt zur Politik. Frage: Was ist für Sie Liebe? Antwort: Volles Vertrauen. Sich absolut aufeinander verlassen. Die Sicherheit: Wenn es ganz schwer wird, ist da jemand, der zu einem hält. Bereit sein, sich absolut füreinander einzusetzen. Frage: Wer liebt Sie? Antwort: Meine Frau, da bin ich sicher. (stern vom 1. 7. 2004)

...die Parteien. Zitat Franz Müntefering: "Ich will Ihnen etwas Gefährliches sagen, ich weiß gar nicht, ob das klug ist: Ich glaube, dass unsere Parteien so etwas sind wie säkularisierte Kirchen. Damit meine ich: Auch eine Partei ist eine Art Überzeugungsgemeinschaft, eine Gemeinschaft, zu der man dazu gehört, die sich einig ist, in der alle auf das eine Ziel hingehen, in der es gemeinsame Überzeugungen - ich will nicht sagen Glauben - und auch gemeinsame Rituale gibt." (SZ vom 30. 4. / 1. 5. 2004)

...sein erster Rücktritt. Müntefering war 18 Jahre alt. Er spielte mit seinem Fußballverein gegen die Sportfreunde Neheim vom Nachbardorf. "Wenn wir heute nicht gewinnen, höre ich mit dem Fußballspielen auf", sagte Müntefering. "Das machst du nie", antworteten seine Freunde. "Doch", sagte er. Das Spiel endete 1:1 unentschieden. "Das wars", sagte Müntefering und machte Schluss.

(taz vom 6. 2. 2004)

Seit über 30 Jahren war er immer dabei, er hatte so ziemlich jedes Amt, bis auf das des Bundeskanzlers, inne, er galt als Funktionär der Politik, er verkörperte den biederen, ehrlichen Parteiarbeiter - und doch gehörte dieser Franz Müntefering immer nur sich selbst. Er gehörte nie anderen, nicht der SPD, nicht dem politischen Betrieb, nicht der medialen Glitzerwelt der Stars und Sternchen. Seinen inneren Kern hat er vor diesen anderen geschützt. Ihm war egal, was sie über ihn dachten. Er blieb stets auf Distanz. Dieses Verhalten entsprang einer wichtigen Erfahrung seines Lebens: an entscheidenden Punkten auf sich selbst zurückgeworfen zu sein.

Fast alles, was er ist, hat er selbst geschaffen. So ein Mensch lässt sich auch seinen Rückzug aus der Politik nicht vorschreiben, von nichts und niemandem. Und so trifft der Arbeitsminister und Vizekanzler an diesem Dienstagmorgen eine souveräne Entscheidung. Er tritt noch im November von allen seinen Ämtern zurück. Am Nachmittag teilt er der Öffentlichkeit mit, dass sein Rückzug ausschließlich familiäre, persönliche Gründe habe. Seine Frau ist schwer krank, sie hat Krebs.

Franz Müntefering ist ein Einzelgänger. Intelligent, kantig, streng, verschwiegen. Er lebt seine Eigenart, aber er hat sie in den letzten Jahren auch kultiviert. So umgibt ihn mittlerweile eine besondere Aura. Müntefering ist in der deutschen Politik der letzten 30 Jahre ein Solitär - ganz anders etwa als ein so durchsetzungsstarker Allerweltstyp wie Gerhard Schröder.

Diese Einzigartigkeit Münteferings bietet in der geschwätzigen Medienwelt von heute natürlich allerlei Stoff für Legenden. Bei ihm hält man irgendwie alles für möglich. Er gilt als großer Stratege, der immer zwei, drei Schritte weiter ist als alle anderen. Und der nie etwas von seinem Wissen preisgibt. Manche Sozialdemokraten behaupten, der Franz sage sich selbst morgens vor dem Spiegel nicht die ganze Wahrheit, aus Angst, es könnte irgend etwas durchsickern.

Es gibt ein Zeitungsgespräch, das dieses Schillernde, Rätselhafte Münteferings sehr gut einfängt. Im März 2004 saßen Schröder und Müntefering in der Redaktion des Berliner Tagesspiegels zusammen und gaben ihr erstes (und letztes) gemeinsames Interview. Der Kanzler hatte ein paar Wochen zuvor das Amt des SPD-Vorsitzenden aufgegeben, der Parteitag, auf dem Müntefering als sein Nachfolger gewählt werden sollte, stand unmittelbar bevor. "Herr Bundeskanzler, was sagen Sie zu Herrn Müntefering?", wurde Schröder von den Journalisten gefragt. Die Antwort des Kanzlers: "Ich hätte ihn gern zum Freund." Nachfrage: "Er ist es noch nicht?" Schröder: "Nun, Freundschaft heißt ja mehr als Loyalität. Freund meint mehr als loyal und vertrauensvoll. Freund meint: unbedingtes Sich-aufeinander-verlassen-Können. Und wir beide hatten noch gar keine Zeit, das miteinander auszuprobieren. Ich habe nicht viele Freunde - den hätte ich gern."

Die Tatsache, dass der Kanzler bei seinem schwierigen Rollenwechsel plötzlich auf die Wärme seines bisherigen Helfers Müntefering angewiesen war, animierte diesen in dem Interview zu einem bemerkenswerten Einwurf: "Ich weiß, wovon Gerd Schröder hier spricht. Ich bin kein Kumpel." Schröder daraufhin: "Das habe ich auch nicht gesagt!" Wieder Müntefering: "Ich kenne meine eigene Distanziertheit, und ich weiß, wie Menschen darauf reagieren. Ich find das sehr schön, dass Gerd Schröder das jetzt sagt. Ich bin mit solchen Dingen sehr vorsichtig."

Die scheinbar schroffe Reaktion Münteferings auf die Freundschaftsbekundung Schröders wurde in der SPD sehr genau registriert. Es wurde als Bestätigung für ein Gerücht gelesen, das bis heute nicht verstummt ist: Müntefering soll Schröder faktisch gezwungen haben, vom SPD-Vorsitz zurückzutreten. Der Fraktionsvorsitzende soll im Herbst 2003 nicht ohne Grund von einer Regionalkonferenz zur anderen gereist sein, um die Parteibasis von der Agenda 2010 zu überzeugen, hieß es. Müntefering wurde von den Genossen als sozialdemokratischer Messias gefeiert. Konnte Schröder also gar nicht mehr anders, als den SPD-Vorsitz an den Retter Müntefering zu übergeben?

Untermalt wurde diese Theorie mit einem angeblichen Telefonanruf des Kanzlers bei Müntefering. Als Schröder von dessen Plan mit den Regionalkonferenzen erfuhr, soll er ihn gefragt haben: "Willst du gegen mich putschen?"

Das gemeinsame Interview der beiden ein paar Monate später wurde vor diesem Hintergrund gelesen. Ein Vertrauter, der beide sehr lange kennt, analysierte das Gespräch in der Zeit. Schröder habe dieses Interview nur wegen dieser einen Textstelle gegeben, sagte er. Ganz sicher sei dem Kanzler der Satz nicht herausgerutscht. Schröders Botschaft habe gelautet: Gegen einen Freund putscht man nicht. Und die Botschaft von Münteferings Antwort sei gewesen: Halte die Ebenen auseinander, Freundschaft hat da nichts zu suchen. Wenn ich mich zwischen dir und der Partei entscheiden muss, entscheide ich mich immer für die Partei.

Müntefering hält diese Verschwörungstheorie für Blödsinn. Drei Jahre nach dem Doppelinterview erklärte er seine damalige Antwort, er sei nicht so der Kumpeltyp, einfach mit seinem Wesen: "Das war nicht böse gemeint. Darüber habe ich schon manches Mal nachgedacht", sagte er. "Vielleicht würde ja ein Psychologe sagen: Das liegt daran, dass er ein Einzelkind ist. Und ich habe meinen Vater erst kennengelernt, als ich sechseinhalb war. Da kam er aus dem Krieg zurück. Und ich hatte einen sehr guten Freund, aber der ist mit 32 tödlich verunglückt. So etwas ist nie wieder aufgetaucht. Ich war meistens ein Alleiner."

Es ist nicht verwunderlich, dass Müntefering sich heute, angesichts seines spektakulären Rücktritts, wieder mit Fragen nach seinen wahren Motiven konfrontiert sieht. Ist die schwere Krankheit seiner Frau wirklich der Grund für seinen Rückzug? Oder ist sein Schritt die späte Rache an seinem Parteichef Kurt Beck, dem er im Ringen um eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I unterlegen war? Oder ist der Rücktritt das Eingeständnis seiner politischen Niederlage Montagnacht im Koalitionsausschuss, als die Kanzlerin ihr Wort brach und dem Arbeitsminister Mindestlöhne für die Post verweigerte?

Die Fragen, so verständlich sie auch sein mögen, sind müßig. Sie ändern nichts an der Tatsache des Rücktritts. Sie geheimnissen vielleicht auch einfach viel zu viel in Müntefering hinein.

Müntefering ist seit 1995 mit seiner Frau verheiratet; es ist seine zweite Ehe. 2002, als die Krebserkrankung bei seiner Frau zum ersten Mal mit aller Wucht zuschlug, hat schon einmal überlegt, mit der Politik Schluss zu machen. Im April 2007, in einem Interview mit dem SZ-Magazin, sprach er das bislang einzige Mal darüber: "Das versucht man zu trennen, aber das gelingt natürlich nicht. Das ist etwas, was einen belastet, was einen auch anstrengt, was einen müde macht, weshalb man zu wenig schläft. Wenn man Sorgen hat. Für mich war 2002, das Jahr der Bundestagswahl, eigentlich das schwerste Aber: Bin gut durchgekommen."

Das geht jetzt offenbar nicht mehr - gut durchkommen. Seine Frau musste sich erneut einer schweren Operation unterziehen. Müntefering will bei der Rehabilitation bei ihr sein. Also macht er Schluss mit der großen Politik. Er ist 67 Jahre alt, nach der nächsten Bundestagswahl 2009 wäre seine Karriere als Spitzenpolitiker ohnehin beendet gewesen.

Mit ihm verliert die SPD einen ihrer letzten Sozialdemokraten. Einen, der der Partei das Herz wärmte und ihr Kälteschocks verpasste. Einen, dessen Führungsstil sie in der SPD "Stalinismus mit menschlichem Antlitz" nannten und den sie auf Parteitagen trotzdem als ihren Helden feierten. Einen, der aus kleinen Verhältnissen stammt und sich gleichzeitig von ihnen emanzipiert hat.

"Ich bin schon ein Traditionalist", sagt er. "Ich will aber auch ein Modernisierer sein." Müntefering hätte gern die alte mit der neuen SPD versöhnt. Er bringt schließlich auch das Kunststück fertig, gleichzeitig Fan von Borussia Dortmund und Schalke 04 zu sein.

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