Debatte zum "demokratischen Sozialismus": Schutzmacht der Neuen Mitte

Die Renaissance des "demokratischen Sozialismus" im SPD-Programm kann neuerliche Enttäuschungswellen auslösen, wenn die Partei nun nicht wirklich nach links rückt.

Die neuen Sozialdemokraten der Fasson Steinbrück und Steinmeier wollen nicht schützen und sichern, sondern aktivieren und modernisieren. Ihr Appell richtet sich daher zuvörderst an die Leistungsstarken in der Mitte der Gesellschaft, die sich fortwährend bilden, dadurch Chancen nutzen, beruflich vorankommen, nach oben strecken. Für den Rest - den "Bodensatz", wie es in Modernisiererkreisen der SPD gern heißt - mag sich die Lafontainesche Linkspartei zuständig fühlen.

Schon seit einen halben Jahrzehnt etwa hat man den Eindruck, dass sich die SPD nach hartem innerem Ringen auch programmatisch zu dem bekennt, was sie sozial, kulturell und politisch längst geworden ist: eine Partei der Gewinner der ersten Bildungsreform, also die parlamentarische und gouvernementale Vertretung einer selbst geschaffenen "neuen Mitte". Partei der unteren Schichten sind die Sozialdemokraten längst nicht mehr. Und auch die sozialpatriarchalische Formel von der "Schutzmacht der kleinen Leute" ist mit dem Ableben von Johannes Rau ganz aus der Rhetorik der SPD verschwunden.

"Soziale Gerechtigkeit", so hat es der sozialdemokratische Finanzminister Steinbrück daher unmissverständlich definiert, "muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die - und nur um die - muss sich Politik kümmern."

Es gab Zeiten, da hätte die Mehrheit der Sozialdemokraten über dergleichen Losungen empört aufgeschrien. Aber die SPD des Jahres 2007 rührte sich nicht. Und insofern schien auch die Programmdiskussion, für die sich über Jahre eigentlich nur die netzwerkigen Neu-Sozialdemokraten aus Gründen des eigenen Emporkommens interessierten, ganz auf den Abschied des klassischen, gemäßigt linken Bündnisses von Mitte und Unten hinauszulaufen. Der Müll der eigenen Geschichte, gleichsam von 1863 bis 1997, sollte unsentimental entsorgt werden. Nichts sollte mehr an Kapitalismuskritik, Arbeiterbewegung, Marxismus oder Sozialismus aus der Parteitradition auch nur semantisch erinnern. So war der Stand des Programmprozesses bis letzte Woche.

Doch erfahren wir nun, dass der "demokratische Sozialismus" als geschichtliches Erbe, "dauerhafte Aufgabe" und "Vision" der Sozialdemokraten im Kanon bleibt, gar erheblich aufgewertet wird. Die SPD also wird sich in vier Wochen mit dem neuen "Hamburger Programm" parteioffiziell wieder auf den Pfad des Sozialismus begeben.

Natürlich, die schmal und anspruchslos gewordenen SPD-Linke feiert das als Etappensieg über die Netzwerker, Steinbrück, Platzeck und andere. Doch zeigt das nur, wie geistig ausgetrocknet die über viele Jahre intellektuell durchaus vitale Linke mittlerweile geworden ist. Im Grunde ist die Insistenz auf das Paradigma des "demokratischen Sozialismus" eher eine Kinderei, eine unreife Trotzreaktion. Denn natürlich ist der "Sozialismus" kein Richtungsanzeiger mehr für die SPD.

Nimmt man den Begriff historisch, theoretisch und hermeneutisch ernst, dann verkörpert das Zielmodell des Sozialismus eine fundamentale Alternative zum marktgesteuerten System, zur bürgerlichen Rechtsordnung, zu den privat zentrierten Eigentumsverhältnissen, zum Rentabilitätsprinzip, zum Individualismus in Lebensweisen und Kultur. Kein Sozialdemokrat - auch nicht Frau Nahles oder Herr Schreiner - strebt solche Verhältnisse im Ernst an. Sozialdemokratische Minister praktizieren Tag für Tag das Gegenteil.

Jenseits der Sozialdemokratie und der Alt-PDS gibt es mittlerweile genug Linke, die illusionslos erkannt haben, dass der Sozialismus nichts anderes ist als kalte Asche. Das Subjekt - die Arbeiterklasse - ist entschwunden. Das Ziel - eine rationelle, präventive Langzeitplanung von Produktion und Konsumption - bedeutet eine vormoderne Unterschätzung von Komplexität. Das Medium - der zentralisierte Staat - ist eine Hydra, die sich niemand mehr wünscht. Kurzum: Die Linke braucht eine neue Analyse, eine neue Strategie, ja ganz und gar neue Begriffe.

Der "demokratische Sozialismus" jedenfalls orientiert nicht. Er ist nicht mehr als Ornament einer Vergangenheit, auf die eine Hand voll Sozialdemokraten - keinesfalls zu Unrecht - stolz sind und in dieser Reminiszenz gerade in schwierigen Zeiten so etwas wie seelischen Trost finden. Dabei rührt allerdings ein Teil der ständigen Krisen der SPD gerade daher, dass man zumindest im Programmatischen das große Ziel, die höhere Moral, die bessere Gesellschaft, die Arkadien der sozialen Gerechtigkeit bewahren möchte. Doch vor dieser Folie des großen Zukunftsversprechens wirkt jede diesseitige Politik lediglich mickrig und blass, mehr noch: wie ein Verrat an den genuinen Prinzipien.

Deshalb, darin hat Peer Steinbrück unzweifelhaft recht, fällt es Sozialdemokraten chronisch schwer, in Harmonie mit den eigenen Regierungsleistungen zu stehen, gewissermaßen im Einverständnis mit sich selbst zu leben. So wirkt die SPD wie eine dauerunglückliche, autoaggressive Formation. Das Pathos des Sozialismus, das nie mit der Nüchternheit der Realpolitik vermittelt ist, produziert eine stete Frustration und Jereminade in der Mitgliedschaft der SPD.

Aber nicht nur dort. Seit eh und je legen ebenfalls die Wähler gegenüber der SPD einen im Vergleich zur CDU erheblich rigoroseren Beurteilungsmaßstab an. Die Wut über Sozialdemokraten an der Regierung übertrifft bei weitem die Kritik, mit der die bürgerlichen Parteien im Kabinett zu tun bekommen. Denn auf nichts reagieren Wähler empfindlich als auf Doppelzüngigkeit. Hier das Bekenntnis zum Sozialismus, dort der Stolz auf Hartz IV - das kann nicht funktionieren. Hier der Schwur auf die soziale Gerechtigkeit, dort die sozialdemokratisch mitverursachte Verschärfung der sozialen Ungleichheit, der Kinderarmut, der Rentenkürzungen, der Demütigung der Arbeitslosen - aus dieser ewigen Diskrepanz speisen sich der Hohn, die Verbitterung, ja die Verachtung gegenüber der SPD gerade bei denjenigen, die zunächst fest daran geglaubt haben, was die Sozialdemokraten wohlklingend in Aussicht stellten.

Und so kann es sein, dass die rhetorische Renaissance des "demokratischen Sozialismus" die SPD nicht nach links rückt, sondern neuerliche Enttäuschungswellen auslöst, von der die Konkurrenzpartei des Oskar Lafontaine und Gregor Gysi ein weiteres Stück profitiert. Die Sozialdemokraten jedenfalls werden sich irgendwann endlich entscheiden müssen. Falls sie die Politik Schröders fortsetzen wollen, dann sollten sie auch nicht mit dem Etikett des "Sozialismus" herumhantieren. Wenn ihnen der Sozialismus aber unverzichtbar ist, dann, ja dann müssten sie ihre Politik schon grundlegend ändern. Doch natürlich: Diesen Mumm hat die SPD längst nicht mehr.

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