Vier Menschen, drei Zimmer

GEMEINSCHAFT Daniel, Assaf, Stefan und Pia sind ein Kunstprojekt. Einen eigenen Raum hat keiner von ihnen

■ Die Geschichte: Die Idee, dass sich Nichtverwandte eine Wohnung teilen, gab es bereits im 19. Jahrhundert. Ein Beleg findet sich in der Literatur: Sherlock Holmes und Dr. Watson haben anfangs in einer reinen Zweck-WG gewohnt.

■ Die Entwicklung: Mit den Studentenprotesten der Sechziger wurden Kommunen einer breiten Öffentlichkeit ein Begriff. Die Bewohner der Berliner Kommune 1 und 2 verfolgten politische Ziele, sie wollten eine Alternative zur Kleinfamilie bieten und wurden mit ihren Aktionen bald bundesweit bekannt. Ab den Siebzigern wurden WGs als unpolitische Variante salonfähig.

■ Die Gegenwart: WGs sind eine beliebte Wohnform geworden. 2010 wohnten 26 Prozent der Studenten in WGs. Inzwischen gibt es auch Wohngemeinschaften für Alleinerziehende, Berufstätige, Senioren und Menschen mit Behinderung.

VON ANDREAS KIENER

Sie nennen das, was sie hier machen, eine soziale Plastik. Es gibt drei Zimmer und eine Wohnküche. Es gibt Stefan, Pia, Daniel und Assaf. An den Wänden hängen Zeichnungen und Slogans, Papierbögen mit Schreibmaschinenschrift in Rot und Schwarz. Eines der Zimmer ist mit lose ausgerolltem Teppichboden ausgelegt, darauf eine Matratze und Bettzeug, ein paar Schlafsäcke in einer Ecke. Soziale Plastik. Es ist ein Begriff von Joseph Beuys.

Beuys sah jeden Menschen als Künstler. Der Mensch erschaffe durch Denken und Sprache soziale Strukturen, er wirke mit seinem gesamten Handeln auf die Gesellschaft ein. Wie setzt man dieses Konzept in einer Wohngemeinschaft um?

Stefan Roeben ist 24 Jahre alt und Filmstudent. Sein Kommilitone Daniel Krug ist 22. Dann ist da noch Pia Achternkamp, die Musikerin, 20 Jahre alt. Und der 24-jährige Maler Assaf Hameiri. Sie kamen über eine Annonce dazu. Stefan, Daniel, Pia und Assaf sind im November eingezogen. Entsprechend uneingerichtet sieht es bei ihnen noch aus.

Vier Menschen, drei Zimmer: Einen eigenen Raum hat keiner von ihnen. Sie wollen Leben, Kunst und gesellschaftlichen Aktivismus verbinden. Ihre Wohnung, sagen sie, soll ein Ort sein, an dem sie sich inspirieren, Kunstprojekte machen, in Gemeinschaft leben und so die Gesellschaft verändern.

Die drei Zimmer gehen alle von der Wohnküche ab. Hier sitzen die vier Bewohner und ihre fünf Gäste jetzt. Einige um den Tisch, ein paar auf dem Fell in der Ecke des Raumes. Ihre Gesichter haben sie sich gegenseitig mit Wasserfarben bemalt.

„Wir können nicht ausschließen, dass wir in Zukunft nach Plan putzen werden“, sagt Daniel. Es gibt erst mal keine Regeln. Wenn es jemandem zu dreckig ist, macht er sauber. Wenn er will. Oder er spricht die anderen darauf an. Wenn jemand kochen will, kocht er. Wenn jemand kein Geld hat, fragt er die anderen. Manchmal gehen sie auch Containern und besorgen ihr Essen aus dem Müll. Vieles muss sich noch einspielen.

„In der Praxis hat sich etabliert, dass jeder meistens im selben Zimmer schläft“, sagt Daniel. Auf seine Stirn hat jemand mit blauer und roter Farbe ein Auge gemalt.

Man könnte das, was sie hier machen, eine neue Kommune nennen. Sie selbst würden das nicht tun. Sie legen sich da nicht gern fest.

Man muss trotzdem an die Kommune I denken. Die Kommunarden, die von 1967 bis 1969 in Berlin zusammenlebten, hatten politische Absichten. Sie sahen ihr Projekt als Gegenmodell zur bürgerlichen Kleinfamilie.

Die Wohngemeinschaft als Form des Zusammenlebens ist dann in den Sechzigern und Siebzigern entstanden. Dem deutschen Studentenwerk zufolge leben 26 Prozent aller Studierenden im Jahr 2010 in Wohngemeinschaften. Ein Anteil, der seit 1991, dem ersten Jahr der Sozialerhebung, kontinuierlich gestiegen ist. WGs sind im Mainstream angekommen.

Stefan kauert draußen auf dem Balkon vor einer kleinen Metalltonne, in der Flammen lodern. Er hat lange Haare und einen struppigen Vollbart. Ein kalter Tag Mitte Januar. Beim Ausatmen bilden sich kleine Dampfwölkchen. Neben der Tonne steht ein Zelt, aus bunten Stofffetzen genäht. In der Ferne sind Sirenen zu hören, dann fährt ein Feuerwehrauto vorbei. Er nimmt ein Holzbrett, deckt die Tonne zu und erstickt das Feuer. Einen Feuerwehreinsatz will er doch nicht riskieren.

Die Szene wirkt seltsam deplatziert auf dem Balkon des sauberen Neubauhauses: Das Zelt, das als Schwitzhütte dient, das Feuer und der junge Mann, der aussieht wie ein Alternativer aus den Siebzigern.

Diese Faszination für Utopien: Ist das ein Gegentrend in einer Zeit, in der zwei Drittel der Deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren ideologiebefreiten Pragmatismus gut finden? Eine Utopie in einer Zeit, in der sich Wünsche meistens darauf beschränken, irgendwann einen erfüllenden Beruf ausüben zu können?

Rainer Langhans, einer der prominentesten Bewohner der Kommune I, hat seine Utopien mittlerweile ins Internet verlagert. Auf seinem Blog beschwört er das Netz als geistigen Raum, der hilft, den Materialismus zu überwinden. Einer Generation, die sich im Internet trifft, könnte man allerdings vorwerfen, dass sie mehr mit der Klick-Zustimmung auf Facebook beschäftigt ist als mit ihrem Gegenüber. Ist das Leben ohne eigenes Zimmer und in ständigem Austausch mit den Mitbewohnern eine Reaktion darauf?

Stefan, Pia, Daniel und Assaf nennen ihre Philosophie scherzhaft Ikea-Prinzip – Individualkollektiv Expansiver Anarchisten. Ihr Konzept des Zusammenlebens, glauben sie, könnte für andere als Vorbild dienen. So soll sich das Ikea-Prinzip immer weiter ausbreiten. „Wie Krebszellen“, meint Daniel. Die Revolution zum Selbermachen. Ohne Organisation, ohne gemeinsame Ideologie. Ein wenig erinnert das an die Hacker von Anonymous, die genauso ungesteuert zu agieren scheinen und sich in einer schwer fassbaren Sphäre bewegen – zwischen politischem Aktionismus und „for the lulz“, für die Lacher.

Das Zusammenleben auf engem Raum, ohne klar definierten persönlichen Bereich, setze Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen voraus, sagt Pia. Man entwickle ein Sensorium für die Bedürfnisse der anderen. Das sei eine Fähigkeit, die in unserer individualisierten Gesellschaft nicht mehr viele haben.

Assaf hat vor Kurzem ein paar Bilder verkauft und hatte daher Geld. Stefan hatte keines, daher hat Assaf ihn durchgefüttert. Stefan sagt, für ihn spiele Geld keine Rolle. Hätte er Geld und jemand anderer gerade keines, würde er es umgekehrt genauso machen.

Jetzt haben sie beide für einen Auftraggeber eine Website gestaltet. „Damit haben wir beide Geld verdient. Das heißt, so wie wir mit Geld umgehen, haben wir eigentlich alle Geld verdient“, sagt Assaf. Sie haben keine Regel dafür, dass die Einkünfte Einzelner allen zugute kommen. Es ist halt gerade so.

Ganz konfliktfrei geht es dennoch nicht zu. In der Wohnküche hängt ein selbstgemaltes Plakat. „Open to all“ steht in großen Blockbuchstaben darauf, der Rest der Fläche ist größtenteils leer. Stefan hat das Plakat aufgehängt und den Slogan gezeichnet. Aber die große weiße Papierfläche sollen andere mit ihren Bildern füllen. Typisch, findet Assaf. Stefan würde oft mit großen Ideen voranpreschen, aber die Umsetzung anderen überlassen.

In der Wohnung liegen Bücher herum, Adorno, Sartre, Barthes. Stefan nimmt ein kleines Reclam-Büchlein des Satirikers Robert Gernhardt in die Hand. „Das ist eigentlich unsere Bibel“, sagt er und beginnt, daraus vorzulesen. Es geht um einen Werbetexter, der seine Kreativität verloren hat und schließlich von seinen Kollegen geschlachtet wird.

Assaf, der Maler, studiert Kunst. Seine Entwürfe sind aus schwarzen Punkten oder Klecksen zusammengesetzt, irgendwie unscharf. Man kann viel darin sehen, aber was sie darstellen, ist nie eindeutig.

Er hat sie aus einem Schrank geholt, im größten Zimmer, in dem auch die Lampe steht, die er gebaut hat. Sein Zimmer, würde man wahrscheinlich sagen. Wäre das hier keine soziale Plastik.