Der Humanismus ist wieder aktuell
: Wer macht die Revolution?

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KOLUMNe

VON Aram Lintzel

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Mit dem Tod von Autor und Subjekt hat man sich längst abgefunden, trotzdem klang es ernüchternd, was meine geschätzte Kolumnen-Kollegin Isolde Charim neulich in ihrem Text über den Merve-Verlag und dessen akzelerationistische Wendung schrieb: „In den automatisierten kapitalistischen Abläufen ist der Posthumanismus verwirklicht: Der Mensch spielt keine Rolle mehr.“ Der Mensch ist verschwunden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand und der Kapitalismus läuft als Perpetuum mobile von alleine?

Der globale Kapitalismus mag hegemonial sein, aber an seiner maschinellen Reibungslosigkeit sind doch Zweifel angebracht. Denn empirisch kommt er ohne Machtkämpfe und politische Entscheidungen nicht aus. Von alleine passiert nichts. Es sei denn, man versteht jedes Parlament nur noch als post­politisches Spektakel.

Solidarität mit Flüchtlingen

Wenn Charim mit den Akzelerationisten ein „posthumanistisches Handlungskonzept – also eines, das nicht auf einer nostalgischen Vorstellung des Menschen basiert“ – für dringlich erklärt, dann erscheint auch dieser Abgesang auf den Old-School-Humanismus übereilt. Gerade die aktuelle Solidarität mit Flüchtlingen signalisiert so etwas wie ein kleines Humanismus-Revival. Denn weder wird die Figur des Flüchtlings wie in älteren linken Stellvertreterkämpfen zu einem revolutionären Subjekt romantisiert, noch geht es hier um den identitätspolitischen Kampf einer kulturellen Partikularität.

Die Menschlichkeit als solche – verstanden als Empathie für die Schwächsten – steht auf dem Spiel und die konkrete Not der Flüchtlinge ist die direkte Anfrage an die humanistischen Standards Europas. Gerade weil ertrinkende Flüchtlinge nicht allein Symptome eines „automatisierten“ Kapitalismus sind, sondern von Gleichgültigkeit hervorgebracht werden, wird Flüchtlingssolidarität anschlussfähig für Leute wie Til Schweiger, die linker Entschiedenheit unverdächtig sind. Vielleicht setzt das oftmals spontane, politisch begrifflose Engagement für Flüchtlinge ein nostalgisches Menschenbild geradezu voraus.

Wenn der Kapitalismus tatsächlich eine gut geschmierte Maschine ohne Beweger ist, wie nostalgisch und vergeblich sind dann die vielen kleinen Kämpfe für mehr „Kollaboration“ (so der Titel des lesenswerten neuen Buches von Mark Terkessidis)? Sind jene Entwürfe mittlerer Reichweite, die mehr Mitwirkung an Schulen, in der Verwaltung, bei Bauprojekten etc. fordern, wertlos, weil sie auf „spießige“ Subsidiarität setzen und nicht gleich maschinenstürmerisch aufs große Ganze zielen?

Auf einer Berliner Diskussionsrunde mit dem Titel „Hölle der Partizipation“ verteidigte die Philosophin Juliane Rebentisch kürzlich die „kleinen Entwürfe“ gegenüber dem „radikalen Bruch“. Und der Autor Ludger Schwarte forderte an selber Stelle gegenüber dem neoliberalen Kreativitäts- und Mitmachzwang eine echte Partizipation mit echter Verantwortung und Autorschaft. Zu Recht wies der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen die Runde darauf hin, dass es in letzter Zeit eine Entgrenzung von Autorschaften gegeben habe, Kuratoren etwa beanspruchten Autorstatus.

Der Kapitalismus mag vielen Menschen immer anonymer vorkommen, gleichzeitig gewinnt die Autorfunktion im Kleinen an Attraktivität. Sollen die massenhaften Mitmachangebote von der realen Unveränderbarkeit betonierter Verhältnisse ablenken? Ähnliches ließe sich dann von der aktuellen Konjunktur der Revolution in Buchveröffentlichungen, Talkshows und Feuilletondebatten sagen.

Der Philosoph Christoph Menke weist in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift Merkur auf „die blinde Stelle der gegenwärtigen Revolutionskonjunktur“ hin: „Ihr gilt die Revolution als etwas, das in der Krise notwendig kommen muss. Die Revolution als Notwendigkeit zu denken, heißt, sie bloß als ein Geschehen zu denken: als etwas, das eintritt. Damit erspart man sich die entscheidende Frage.“

Nämlich: Wer soll Veränderung hervorbringen? Auch der Technooptimismus der Akzelerationisten gibt fürs Erste keine befriedigende Antwort. Um der Not realer Menschen empathisch begegnen zu können, braucht man jedenfalls reale Menschen mit einem Rest humanistischer Nostalgie und keine Technologiefortbildung. Selbst wenn Autorschaft in den sozialen Netzwerken und anderswo zum alltäglichen Spektakel verkommen sein mag und die Maschine läuft: Das humanistische Ideal, dass jeder selbst das Skript seines Lebens schreibt, sollte nicht als Massenbetrug abgetan werden.

Der Autor ist Referent für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Publizist