Kommentar Vorteile der Flüchtlingskrise: Eine riesige Wissensressource

Die Konfrontation mit Flüchtlingen und ihren Problemen birgt die Chance, als Gesellschaft ein komplexeres Weltbild zu entwickeln.

Eine Frau verteilt Äpfel an Flüchtlinge

Das bislang geltende Ordnungsprinzip, das Asylsuchende von der Normalbevölkerung isolierte, um sie leichter abschieben zu können, wird aufgeweicht. Hier verteilt eine Helferin vor dem LaGeSo in Berlin Äpfel an Flüchtlinge Foto: reuters

„Da kann man nichts machen, die Sache ist kompliziert, wir können ja nicht alle aufnehmen.“ Wie oft wurde in den letzten Jahren die allgemeine Passivität gegenüber den Problemen in Syrien, Diktaturen insgesamt und der „Festung Europa“ als gesunder Menschenverstand verkauft!

Offenheit war keine Option, Helfen galt als unprofessionell, und Interventionen waren indiskutabel. Jeder blieb sich selbst am nächsten. Und nun passiert das Unvorstellbare: Tatkräftige Solidarität breitet sich aus – und sie ist ansteckend. Niemand in Europa kann Nichtstun noch als Weitblick verkaufen und Engagement für Menschen in Not als klebrige Gefühligkeit abkanzeln.

Auch ziviler Ungehorsam wird vermehrt ins Handlungsrepertoire aufgenommen. Der Autokonvoi, der von Wien nach Ungarn aufbrach, um Vertriebenen eine Mitfahrgelegenheit nach Deutschland anzubieten, ist dafür nur ein Beispiel. Aber es ist ein sehr schönes.

Auch in das Drama, das sich täglich etwa vor der kollabierten Erstaufnahmestelle in Berlin abspielt, schmuggelt sich eine Hilfsbereitschaft, die Hoffnung macht. Das bislang geltende Ordnungsprinzip, das Asylsuchende von der Normalbevölkerung isolierte, um sie leichter abschieben zu können, wird so aufgeweicht. Das ist wichtig, denn es rettet Leben. Und so sorgen Leute am Abend auf dem Gehsteig vor der Behörde ohne viel Aufhebens für ein warmes Abendessen für alle, die noch keinen Schlafplatz gefunden haben.

Andere gehen mit den erschöpften Neuankömmlingen auf die Polizeiwachen, lassen sie dort registrieren und bieten ihnen für ein paar Tage eine private Unterkunft an. Damit sie Luft schnappen können, bevor sie sich dem Asylprozedere aussetzen. Die Entschiedenheit, mit der viele der hier Ansässigen Richtiges tun, ist beeindruckend.

Und doch fehlt etwas. Zumal in der Medienberichterstattung. Es fehlen die Einschätzungen der Vertriebenen selbst, ja in der Regel fehlen ihre Stimmen in Gänze. Das Bild vom dankbaren, aber stummen Vertriebenen entsteht. Was für ein Versäumnis!

Neue Strukturen und Konzepte

Das Engagement darf nicht länger dafür benutzt werden, die politische Dimension der Katastrophe in der Öffentlichkeit zu marginalisieren. Einzelpersonen können nicht ewig das Staatsversagen ausgleichen. Es braucht neue Strukturen und neue Konzepte fürs Inland wie fürs Ausland, dazu gehört auch eine Diskussion über die Fluchtursachen.

Nur so können neue Strategien zur Befriedung entwickelt werden. Sonst werden noch mehr Menschen sterben oder verelenden, und die wenigen, die es nach Deutschland schaffen, schon bald wieder einer Bürokratie ausgeliefert sein, die eine Menschenverachtung pflegt, die sich die meisten Biodeutschen erst vorstellen können, nachdem sie einmal einen Asylsuchenden dorthin begleitet haben.

Die Vertriebenen geben uns Unversehrten die Chance, unsere Gesellschaft besser kennenzulernen und gleichzeitig ein komplexeres Weltbild zu entwickeln. Sie sind eine riesige Wissensressource. Ein Grund für die tödliche Ignoranz, die hierzulande dem Krieg in Syrien entgegengebracht wird, ist ja die kümmerliche Kenntnis von der syrischen Gesellschaft.

Auch die irrige Idee, Diktaturen seien das kleinere Übel und global gesehen Garanten der Stabilität, lässt sich mithilfe der Erfahrungen der Vertriebenen überwinden. Also her mit den politischen Einschätzungen der Vertriebenen! Her mit der Diskussion über Lösungsvorschläge, so wie sie in ihren Herkunftsländern diskutiert werden. Das ist unsere Chance, nicht nur individuell, sondern auch außenpolitisch die Sackgasse zu verlassen.

Auch die Politik agiert nun anders

Das ist utopisch? Noch vor wenigen Monaten mieden liberale oder linke PolitikerInnen das Flüchtlingsthema, weil klar war, damit gewinnen nur die Rechten Stimmen. Das ist heute anders.

Auch fürs Inland springt etwas dabei heraus. Denn die Vertriebenen verleihen der Frage neue Brisanz: Warum ist die politische Elite so unvorbereitet? Warum arbeiten die Behörden und die Polizei so schlecht? Kurzum: Warum verschleudern Staatsdiener so unverdrossen die Ressourcen der Zivilgesellschaft?

Treten wir jetzt in einen Dialog ein, dann bekommt auch die Kungelei mit den Rechten einen politischen Preis. Dann werden die Maizières, Seehofers und Tillichs überlegen, ob sie nicht doch Konzepte zur Einwanderung entwickeln und die Polizei anhalten, gegen rechts vorzugehen. Das wäre ein riesiger Schritt in Richtung Demokratie. Dank der Neuankömmlinge ist er jetzt möglich.

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leitet seit August 2015 das Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung.   Mich interessiert, wer in unserer Gesellschaft ausgeschlossen und wer privilegiert wird - und mit welcher kollektiven Begründung.   Themenschwerpunkte: Feminismus, Männlichkeitsentwürfe, Syrien, Geflüchtete ,TV-Serien.   Promotion in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft zu: "Der Mann in der Krise - oder: Konservative Kapitalismuskritik im kulturellen Mainstream" (transcript 2008).   Seit 2010 Lehrauftrag an der Universität St. Gallen.

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