Die Zeitschrift „Oya“ wird von einer Genossenschaft aus etwa 500 Leser*innen getragen und im Dorf Klein Jasedow gegenüber der Insel Usedom produziert. Die Redaktion berichtet über zukunftsfähige Ideen, ökosoziale Projekte, Permakultur und vieles mehr. Fürs langfristige Überleben braucht „Oya“ neue Fans und Abos. www.oya-online.de
: OYA-TALK

Oya: In letzter Zeit ist mehr und mehr Dialog und Zusammengehen verschiedener Bewegungen zu beobachten. Ihr vertretet solche verschiedenen Richtungen und habt euch im „Nürnberg-Netz“ zusammengefunden, um herauszufinden, welches Potenzial in Austausch und Zusammenarbeit liegt. Was sind eure Motive, eure unterschiedlichen Ausgangspunkte?

Nina Treu:Mich treibt seit vier Jahren das Thema Postwachstum um. Gemeinsam mit anderen habe ich das „Konzeptwerk neue Ökonomie“ gegründet als einen Verein, der versucht, Ansätze für eine ökosoziale demokratische Wirtschaft greifbar und für viele Leute interessant zu machen. Mir ist es auch sehr wichtig, wie Menschen wohnen und ihren Alltag bestreiten. Gerade sitzen wir in dem Haus, in dem ich wohne. Der Ladenbereich im Erdgeschoss heißt „Handstand und Moral“. Hier finden Veranstaltungen und Partys statt.

Silke Helfrich:Ich war sehr lange in der Entwicklungszusammenarbeit in Mittelamerika unterwegs und bin dort auf Begriffe wie „Biopiraterie“ und „Enclosure“ beziehungsweise „Einhegung“ gestoßen, also die systematische Trennung der Menschen von Ressourcen durch beides: Markt und Staat. Mit der Zeit ist mir bewusst geworden, dass es weit über die Kritik an der Privatisierung hinausgeht, wenn die Überwindung des Prinzips „Einhegung“ auf der Tagesordnung steht. So bin ich zu den Commons gekommen, und mir wurde klar: Das ist etwas Uraltes, Interkulturelles. Es geht dabei nicht nur um eine andere Ökonomie, sondern auch um eine andere Lebensform, um die Tiefe sozialer Beziehungen. Um das Ganze des Lebens.

Thomas Deterding:Ich bin seit meiner Jugend politisch aktiv, zunächst in der Bewegung für Direkte Demokratie. Auch bei der Gemeinwohlökonomie wird dieser Ansatz stark vertreten. Hier geht es darum, ein neues Wirtschaftssystem mit den Bürger*innen gemeinsam aufzubauen und „Wirtschaft“ und „Gesellschaft“ wieder zusammenzubringen, also die Unternehmen so in die Gesellschaft zurückzuführen, dass deren Verantwortung dort deutlich gespiegelt wird.

Dagmar Embshoff:Mich hat als Jugendliche das selbstbestimmte Entwickeln von Projekten in der Umweltbewegung fasziniert. Dieses basisdemokratische Miteinander gleichberechtigter Menschen nach dem Prinzip „Kooperation statt Konkurrenz“ spiegelt sich auch in der Solidarökonomie. Der zweite wesentliche Aspekt ist für mich „Sinn statt Gewinn“ – also nachzufragen, was Menschen wirklich brauchen und wie es auf naturschonende Weise hergestellt werden kann. Im Bereich Lebensmittel passiert schon sehr viel, aber wie lassen sich auch für komplexere Geräte solidarische, regionale Produktionsketten aufbauen? Solche Fragen möchte ich auf dem Kongress „Solikon“, den ich mitorganisiere, voranbringen.

Ingo Frost:Ich war auch lange in der Umweltbewegung aktiv. Wir haben es tatsächlich auch geschafft, ein Kohlekraftwerk zu verhindern, aber in mir war immer die Frage, was mit den Hunderten anderen ist, die in den nächsten Jahren weltweit gebaut werden. Wer sich ernsthaft mit der globalen Entwicklung befasst, kann fast nur depressiv werden. Mir ist das zum Glück nicht passiert, denn ich bin ich auf die Transition-Town-Bewegung gestoßen. Ich habe mir in England verschiedene Projekte dieser Bewegung angeschaut und in Eberswalde eine Gruppe mit aufgebaut. Mich fasziniert, was sich vor Ort bewegen lässt, aber gleichzeitig sehe ich auch, dass sich die globalen Rahmenbedingungen ändern müssen.

Thomas Dönnebrink:Ich bin vor drei Jahren auf das Thema kollaborativer Konsum gestoßen und hatte das Gefühl, dass darin eine Menge Veränderungspotenzial steckt. Seitdem engagiere ich mich im Netzwerk „Ouishare“. Über den Konsum hinaus zum kollaborativen Wirtschaften zu kommen, wird für Ouishare immer wichtiger, es geht inzwischen auch um kollaborative Produktion und Finanzierung, um frei verfügbare Software, Hardware und Bildung, um Partizipation und Transparenz in Politik und vielen Bereichen. Aber wenn ich das System wirklich verändern will, muss ich bei der Geschichte, die wir erzählen, ansetzen. Wir brauchen einen anderen Mythos. Deshalb finde ich es spannend, dass wir im Nürnberg-Netz oder auf der Solikon jetzt zusammendenken, was früher getrennt war – das ist eine neue Qualität.

In dieser „neuen Qualität“ steckt Austausch und gemeinsames Zusammenwirken trotz unterschiedlicher Ansichten. Warum? Welche Prozesse müssten verstärkt werden, damit Diversität als Plus erkannt wird und nicht als etwas, was uns zersplittert?

Silke Helfrich:Dazu möchte ich erst mal etwas Warnendes sagen. Diversität und Vielfalt ist gut und schön – aber müssen wir uns nicht vergewissern, dass wir uns paradigmatisch auf einer gleichen Ebene befinden, wenn wir mit anderen wirkungsvoll zusammenarbeiten möchten? Dass wir Menschenbilder teilen oder die Frage, was Ökonomie eigentlich ist, ähnlich beantworten?

Dagmar Embshoff:Alternative Ökonomie gibt es in Deutschland ja schon mindestens seit den 1970er Jahren. Mir scheint, dass damals vieles gleichzeitig gewollt, aber oft nicht gelebt werden konnte. „Wir wollen hie­rar­chie­frei arbeiten“ oder „wir wollen selbstbestimmter“ sein – das war schwer für eine Gesellschaft mit der Gewalterfahrung des Kriegs im Nacken. Heute gibt es zwar auch Konflikte, aber viel mehr Instrumente, mit ihnen umzugehen, sei es gewaltfreie Kommunikation oder Methoden aus der Mediation oder Moderation. Vor allem scheint mir über die Jahre eine andere Kultur des Zuhörens zu wachsen.

Ingo Frost:Mit scheint aber nicht, dass das eine neue Tendenz nur von jungen Leuten ist. Auf der lokalen Ebene gibt es seit Jahrzehnten solidarökonomische Betriebe und Projekte.

Nina Treu:Wichtig finde ich, in der Kommunikation zu differenzieren, wenn wir ganz unterschiedliche Zielgruppen ansprechen. Man kann nicht mit den gleichen Worten Leute aus verschiedenen Milieus und Altersgruppen erreichen.

Silke Helfrich:Hm, „Markt“ und „Marktplatz“ sind verschiedene Dinge. Marktplätze wird es wohl immer geben. Aber die Ökonomien, die ich mir vorstelle und in denen es sicher auch noch gemeinschaftlich kontrolliertes Geld gibt, müssen von den anonymen Märkten, den „Marktmechanismen“ getrennt sein, die hinter unseren Rücken wirken. Ich halte es für eine zentrale Frage, ob wir den Markt, der das Produzieren von Waren aus der Gesellschaft herauslöst, menschlicher machen wollen oder nach grundsätzlich anderen Wegen suchen. Die Gemeinwohlökonomie stellt ja die Warenproduktion für den Markt nicht infrage, aber sie strebt eine kulturelle Transformation an, indem sie Unternehmen bei ihrer Umgestaltung berät. Vielleicht ist das eine sinnvolle Transformationsstrategie ...

Noch mal: Was sind eure Unterschiede?

Silke Helfrich:Na gut, dann schärfer: Die Gemeinwohlökonomie tut mit ihren Gemeinwohlbilanzen ja etwas, das heutigen Ökonomen sehr entspricht – sie misst und zählt andauernd irgendwas. Für alles gibt es Punkte. So etwas trennt dich eher von dem, was wichtig ist, denn wenn es darum geht, wieder in Beziehung zu sein, gerade im Verhältnis von Mensch und Natur, dann ist das nicht messbar. Wenn wir also das alte Paradigma verlassen wollen, müssten wir dann nicht auch aufhören, zu messen und zu zählen?

Thomas Deterding:Gerade dadurch, dass sie Werte benennt und als bemessenswert darstellt, bringt die Gemeinwohlökonomie sie überhaupt erst ins Spiel. So wird der Diskurs darüber angeregt. Uns geht es darum, dass sich eine Gesellschaft darüber verständigt, was für sie wesentlich ist, und dafür Rahmenbedingungen findet. Auch in unseren Diskussionen finde ich die Frage wichtig, welche Werte es sind, auf die wir uns hinbewegen.

Nina Treu:Es ist ein großer Unterschied, ob sich eine Diskussion um das Paradigma oder das realpolitische Vorgehen dreht. Es ist realpolitisch sinnvoll, zu sagen: Wir setzen Vermögensobergrenzen und sagen nicht gleich, Vermögen sollte es gar nicht geben. Oder: Wir hegen den Markt ein, statt ihn komplett abschaffen zu wollen. Wenn wir hingegen über einen Idealzustand sprechen, ist es interessant, auch Marktwirtschaft an sich infrage zu stellen. Zu Eigentumsverhältnissen haben wir wohl unterschiedliche Positionen. Oder zur Gewinnabschöpfung – soll sie überhaupt möglich sein, und wenn ja, wie?

Thomas Dönnebrink:Wir arbeiten alle an verschiedenen Baustellen der Transformation. Für mich ist die Commons-Bewegung sehr nahe am Ziel, vielleicht gefolgt von der Solidarökonomie und Degrowth-Strategien. Am Anfang, sozusagen als Trittsteine, sehe ich Gemeinwohl- und Share-­Ökonomie. Gemeinwohl – daran kann ich mich auch orientieren, wenn ich mich noch nicht in eine Welt, die nach Commons-Prinzipien alles gemeinschaftlich durch freiwilliges Beitragen oder Schenken organisiert, hineindenken kann. Das Ganze ist ein Fluss mit vielen Steinen darin.

Silke Helfrich:Ich denke übrigens nicht, dass wir vor allem eine Werte­debatte führen müssen. Wenn es so ist, dass eine andere Ökonomie eine andere soziale Praxis bedeutet, muss vor allem praktiziert und dieses dann von allen Beteiligten oder Betroffenen diskutiert werden. „Diejenigen, die etwas angeht, sollen es entscheiden“ – das ist ja ein sehr alter Gedanke. Erst in dieser Praxis und in diesem Diskussionsprozess entstehen Werte. Da kann nicht die Bewegung der Commons, der Solidar- oder Gemeinwohlökonomie sagen, wonach mensch sich zu richten hätte. Es geht eher darum, Prozesse zu stärken, die dazu führen, dass Menschen den Umgang mit Ressourcen nachhaltig gestalten.

Thomas Deterding: Aber genau das ist ja der Ansatz der Gemeinwohlökonomie!

Ingo Frost:Diese Vorstellung, dass wir erst mal gemeinsame Werte oder Ziele festlegen müssen, hatte ich früher auch, aber nach dem ersten Vortrag über Reconomy des englischen Transition-Netzwerks habe ich sie abgelegt. Die deutschen Zuhörer wurden total kribbelig: „Wo war dabei euer Kriterienkatalog? Was, den gab es nicht?“ Ja, die Leute in England legten einfach los, und am Ende kam etwas Sinnvolles dabei heraus. Bei Transition-Town Eberswalde zeigt uns die Praxis, was diskutiert werden muss. Wenn der letzte Laden in einem Dorf wegfällt, kommt sofort die Frage nach Eigentum und solidarischer Finanzierung auf, und von dieser konkreten Frage bewegen sich dann alle zu grundsätzlichen Fragen hin.

Silke Helfrich:Ich bin zwar die Erste, die sagt, alles ist Prozess, alles ist Beziehung, aber mir fällt dieses Wort „Korridor“ ein. Es ist mir nicht egal, in welche Richtung all diese Prozesse laufen. Bei manchen Bewegungen lief wenig Reflexion über ihre Ziele. Das führte dazu, dass Share-Eco­no­my heute ein absolut diskreditierter Begriff ist, weil er mit Kommerzialisierung und dem Unterlaufen von Sozialstandards verbunden wird.

Nina Treu:Ein Grundprinzip von politischer Diskussion ist die Wertedebatte. Ich finde es aber nicht schlimm, dass die Share-Eco­no­my das erst nicht gemacht hat und jetzt erst die Fallstricke deutlich werden. Wichtig ist, dass die Auseinandersetzung mit Profiten und Marktmacht überhaupt stattfindet. Es ist auch etwas Positives, dass es diese Bewegung in die großen Medien geschafft hat – wir konnten ihre Sollbruchstellen kennenlernen. Bei der Degrowth-Bewegung kennen wir das noch nicht!

Silke Helfrich:Das ist eine interessante Perspektive!

Nehmen wir an, eine Zauberfee sagt, in fünf Jahren ist eine Welt entstanden, in der alle eure ökonomischen Modelle existieren – wie würde die aussehen?

Dagmar Embshoff:Die Ressourcen sind begrenzt, letztlich muss sich das Soziale im Rahmen der Natur bewegen. Deshalb würden wir in meiner Zukunftswelt mit der Natur wirtschaften, nicht gegen sie. Die Maschinen müssten so gebaut sein, dass sie aus erneuerbaren Ressourcen bestehen oder recycelbar sind.

Nina Treu: Wir bräuchten überhaupt keine neuen Maschinen mehr, sondern müssten nur lernen, die alten zu reparieren.

Silke Helfrich:Und sie müssten ohne fossile Brennstoffen auskommen. Aber dann bräuchten wir eine Welt, in der niemand mehr Interesse daran hat, neue Maschinen zu verkaufen.

Dagmar Embshoff:... und damit Gewinn zu machen.

Silke Helfrich:Um den Punkt „Gewinn“ geht es mir dabei nicht. Solange ich meinen Lebensunterhalt aus dem Lohn bestreite, den ich für den Bau von Schiffen bekomme, wird es schwierig in einer Welt, die nur noch repariert. Die Beharrungskräfte dieses Interesses, Schiffe zu verkaufen, sind sehr groß. Sobald du anfängst, die Frage zu stellen: „Was lässt sich verkaufen?“, läuft schon alles falsch. Korridor verfehlt, sozusagen. Du fragst nicht mehr, wie reale Bedürfnisse befriedigt werden können, sondern wie abstrakte Geldsummen zustande kommen. Es ist megawichtig, immer über eine Vielzahl von Möglichkeiten nachzudenken, wie Lebensmittel und andere Güter von ihrer Herstellung bis zum Ver- oder Gebrauch vermittelt werden können.

Dagmar Embshoff:In meiner Zukunftswelt würden wir auf jeden Fall die Erwerbsarbeit reduzieren. Schon das ist ein Prozess, der viel auslösen wird.

Nina Treu:Ich hoffe, dass in zwei Jahren auch Deutschland die Krise abbekommt und Fragen, die hier ausgeblendet werden, aber den Rest Europas und der Welt akut betreffen, politisch diskutiert. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen sich fragen: Was macht mich glücklich? Wozu will ich eigentlich leben?

Thomas Deterding:Eine andere Welt macht mehr Spaß, weil sie mehr Sinn ergibt. Ich glaube, dass die Menschen das mehr und mehr erkennen. Wir zeigen, dass es schon heute ganz viele Ansätze gibt, die sich in meinem Zukunftsbild mehr und mehr aufeinander zubewegen.

Thomas Dönnebrink:Vieles läuft schon in die richtige Richtung. Die enkeltauglichen Ansätze müssen jetzt in alle möglichen Medienkanäle übersetzt werden, damit mehr Menschen zum Mitmachen angeregt werden. Ich weiß nicht, ob dieser Wandel, den wir spüren, ein schneller Prozess ist, aber ich nehme seine Dynamik deutlich wahr.

Ingo Frost:Mein Wunsch für die Zukunft ist, dass wir auch bereit sind, zu scheitern. Es müsste in Ordnung sein, wenn wir in drei Jahren feststellen, dass dieser oder jene Ansatz in einem lokalen Zusammenhang doch nicht passt oder nicht mehr passt. Und vielleicht kommen in drei Jahren neue Ideen hinzu.

Silke Helfrich:Ich möchte mit Tolstoi sprechen, mit seiner schönen Erzählung „Wovon die Menschen leben“. Ich wünsche mir, dass in wenigen Jahren deutlich geworden ist, wovon Menschen eigentlich leben: davon, dass sie sich einander zuwenden. Ich wünsche mir, dass Selbstorganisation und Selbstbestimmung nicht nur Modelle sind, sondern weithin praktizierte Lebensformen. Und dass es die erste Commons-Professur gibt und viele Professuren für Solidarökonomie, so dass sich diese denkerische Tradition weiter entwickeln und verbreiten kann.

„… und eine Feuersäule spaltete das ganze Haus. Und der Engel rührte seine Flügel, und fuhr in den Himmel.“ So geht der Schluss der Geschichte. „Und als Semjon wieder zu sich kam, stand das Haus wie zuvor. In der Stube aber war niemand außer ihm und den Seinen.“ Das Stück habe ich vor vielen Jahren zu einer langen Performance vertont. Es ist Tolstois großartige Parabel über eine Ökonomie der Liebe, und der Frage, wovon die Menschen leben, hatten wir schon die allererste Ausgabe von Oya gewidmet. Ob wir jemals dahin kommen, das verwirklicht zu sehen? Es tut jedenfalls gut, zu spüren, dass ein tiefer Wunsch danach in unserem Gespräch zu spüren war. Vielen Dank euch allen!

Die Zeitschrift Oyawird von einer Genossenschaft aus etwa 500 Leser*innen getragen und im Dorf Klein Jasedow gegenüber der Insel Usedom produziert. Die Redaktion berichtet über zukunftsfähige Ideen, ökosoziale Projekte, Permakultur und vieles mehr. Fürs langfristige Überleben braucht Oyaneue Fans und Abos.

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