Vor dem Kammerflimmern

Kammerrecht Die Mitgliedschaft in einer berufsständischen Kammer ist für Firmeninhaber Pflicht. Doch die Kritik wächst: Unternehmer wie der Hamburger Handelskammer-Rebell Tobias Bergmann proben den Aufstand, andere ziehen vor Gericht. Werden sie es schaffen, das Kammersystem zu ändern?

Prächtig, keine Frage, diese Hamburger Handelskammer, wie demokratisch, ist dagegen umstritten Foto: dpa

von Johann Laux

Angefangen hat es mit einem Bayern, ausgerechnet. Wie die meisten Unternehmer bekommt Tobias Bergmann jedes Jahr Post von seiner Handelskammer. Der Geschäftsführer einer Hamburger Beratungsfirma soll seinen Kammerbeitrag zahlen, in seinem Fall immerhin eine fünfstellige Summe.

„Ich habe mich immer gefragt: Was habe ich eigentlich davon?“, erzählt Bergmann mit seinem bayerischen Akzent, den er im Norden nie verloren hat. Als sich die Industrie- und Handelskammern im Streit um den Mindestlohn einschalteten und im Namen aller Unternehmer gegen dessen Einführung argumentierten, wurde es ihm zu viel. Der Unternehmer Bergmann ist für den Mindestlohn.

Vor vier Jahren ließ er sich in das Plenum der Hamburger Handelskammer wählen, dort werden die Richtlinien der Kammerarbeit bestimmt. Im letzten Jahr folgten ihm elf seiner Mitstreiter, inzwischen organisiert im Bündnis „Die Kammer sind wir“. Jetzt sitzt ein rebellisches Dutzend in einer der mächtigsten Institutionen der Hansestadt und zettelt eine kleine Revolution an: mehr Transparenz, mehr Demokratie, weniger Finanzkraft. Immerhin belaufen sich die Rücklagen der Handelskammer derzeit auf fast 50 Millionen Euro.

Doch nicht nur in Hamburg, auch anderswo im Norden wächst der Widerstand – oftmals vor Gericht: In Bremen klagt ein Spediteur gegen die Höhe des Kammerbeitrags. Vor den Verwaltungsgerichten in Schleswig und Hannover laufen derzeit Klagen gegen die Vermögensbildungen der örtlichen Industrie- und Handelskammern. In Hildesheim hat ein Tischler gegen die Praxis wettbewerbsfreier Wahlen in seiner Handwerkskammer geklagt, wenn auch erfolglos. Die Prozessliste ließe sich durchaus verlängern.

Einfach Austreten geht nicht

Warum treten die Unzufriedenen nicht einfach aus ihren Kammern aus, anstatt zu klagen? Weil es rechtlich unmöglich ist. In Deutschland sind die allermeisten Unternehmen per Gesetz zur Mitgliedschaft in einer der derzeit 80 regionalen Industrie- und Handelskammern verpflichtet. Hinzu kommen über 50 Handwerkskammern und die Kammern freier Berufe wie Anwälte und Ärzte. Den meisten Ärger würde es ohne die Pflichtmitgliedschaft inklusive Pflichtbeiträge wahrscheinlich gar nicht geben. Denn wer sich nicht aussuchen kann, Mitglied zu sein, fängt an, genauer hinzuschauen.

Bislang hat keines der höchsten deutschen Gerichte am Kammerzwang gerüttelt. Jetzt liegt erneut eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe gegen das System vor. Die Beschwerde ist zwar noch nicht zur Entscheidung angenommen, doch viele Kammergegner machen sich Hoffnungen: Schließlich hat das Gericht zahlreiche Verbände, den Bundestag und Ministerien aufgefordert, eine Stellungnahme abzugeben. Das klingt nicht nach Abweisung.

Der Staat hält sich zurück

Dabei sind die Kammern eigentlich im Interesse der Kritiker: Als berufsständische Körperschaften des öffentlichen Rechts nehmen sie die Selbstverwaltung der Wirtschaft wahr, zum Beispiel indem sie Prüfungen in der Ausbildung abnehmen. Der Staat hält sich insoweit zurück und lässt die Unternehmen unter seiner Aufsicht ihre Angelegenheiten selbst regeln.

Nach dem ersten Paragrafen des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern von 1956 (IHKG) haben die Kammern die Aufgabe, „das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirks wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen“. Und genau hier liegt das Problem.

Das Gesamtinteresse der Gewerbetreibenden ist nur eine Fiktion des Gesetzes: Wie schon beim Mindestlohn fand sich Unternehmensberater Bergmann bei den Themen Olympiabewerbung und Rückkauf der Hamburger Energienetze in Opposition zur eigenen Handelskammer: „Plötzlich musste ich eine Lobbyorganisation zahlen, die gegen meine politische Orientierung eine Kampagne mit meinen Pflichtbeiträgen gestartet hat.“ Zwar befürworten derzeit rund 69 Prozent der Mitgliedsunternehmen der Handelskammer Hamburg eine Olympiabewerbung der Stadt. Doch die Mehrheit sind eben nicht alle.

Erfahrungen mit der Hamburger Handelskammer

„Plötzlich musste ich eine Lobbyorganisation zahlen, die gegen meine politische Orientierung eine Kampagne mit meinen Pflichtbeiträgen gestartet hat“

Tobias Bergmann, Handelskammer-Rebell

Ändern ließe sich das IHKG nur im Berliner Bundestag. Solange dies nicht geschieht, will Bergmann seine Handelskammer weiter reformieren. Auch deshalb dürfte sein Blick gespannt nach Karlsruhe gehen. Zweimal hat sich das Bundesverfassungsgericht bislang mit dem Thema befasst: Der erste Beschluss erging 1962, da war das IHKG gerade einmal sechs Jahre alt. Im Jahr 2001 ist eine Verfassungsbeschwerde zwar nicht zur Entscheidung angenommen worden, doch die Richterinnen und Richter haben sich für die Begründung der Ablehnung auffällig viel Mühe gegeben.

Eine Frage der Grundrechte

Dabei geht es vor allem um zwei Grundrechte: Artikel 9 des Grundgesetzes (GG) schützt die Freiheit, sich in Vereinen und Gesellschaften zusammenzuschließen. Die Norm wird aber auch so verstanden, einer Vereinigung gerade fernbleiben zu dürfen. Diese negative Vereinigungsfreiheit ist nach bisheriger Meinung des Bundesverfassungsgerichts aber gar nicht berührt: Sie betrifft freiwillige private Vereinigungen, nicht die gesetzlich angeordnete Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft.

Prüfungsmaßstab für den Schutz gegen die Zwangsmitgliedschaft ist aus Karlsruher Sicht Artikel 2 Absatz 1 GG, die allgemeine Handlungsfreiheit. Die sei zwar tatsächlich betroffen, der Eingriff aber gerechtfertigt: Denn nur, wenn die Gewerbetreibenden aller Branchen und Betriebsgrößen in den Kammern vertreten seien, könne sich die Wirtschaft auch vernünftig selbstverwalten. Weil das System auf die Mitwirkung der betroffenen Pflichtmitglieder setze, gleichzeitig aber deren passive Nichtbeteiligung erlaube, sei die Handlungsfreiheit trotz Pflichtmitgliedschaft gesichert.

In der Begründung des Gerichts steckt ein großes Aber: Die Änderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verlange vom Gesetzgeber „die ständige Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine öffentlich rechtliche Zwangskorporation noch bestehen“. Zu dem Zeitpunkt der Entscheidung wurde das IHKG das letzte Mal 1998 eingehend vom Bundestag diskutiert. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Rebellen wie Bergmann sitzen inzwischen selbst in den Organen der Handelskammer. Rund 20 Prozent der Mandate hat sein Bündnis bei der letzten Plenumswahl errungen.