Tausend Versuche, die Geliebte zu begreifen

Beziehungen Revanche, Partnerschafts-hermeneutik, Liebeserklärung: Die Autorin Silvia Bovenschen porträtiert ihre langjährige Lebensgefährtin Sarah Schumann – „Sarahs Gesetz“

Was einen in dieser fremden Welt hält: Silvia Bovenschen (links) und Sarah Schumann 1981 Foto: Abisag Tüllmann/bpk

von Eva Behrendt

Mehrmals hat die Berliner Malerin Sarah Schumann ihre Freundin, die Schriftstellerin Silvia Bovenschen, porträtiert. Einige dieser geheimnisvollen, farbgewaltigen Werke – die meisten stammen aus den siebziger Jahren – lassen sich im Netz betrachten: Eines zeigt die Autorin wie eine moderne Venus auf den Betrachter zutretend, das feine, in seinem fotografischen Realismus gut wiedererkennbare Gesicht wild von Haaren umzüngelt, die sich in psychedelischen, rot-grünen Farbstrudeln auflösen. Ihr zur Seite gestellt und ins Bild montiert ist die kleine Schwarz-Weiß-Fotografie eines Innenraums: Erinnerungsraum, Salon oder Metapher für etwas ganz anderes?

In einer anderen Collage wird dieselbe Silvia von einer Meereswoge zum Fenster empor gespült. Im Raum mit ihr drängeln sich Hochhäuser, quellen bedrohliche Explosions- und Gewitterwolken, zwischen denen Schlangenhäute schimmern. Bovenschen aber steigt, in ein weißes Kleid gehüllt und leicht wie ein Engel, durch das Fenster dieser irdischen Höllenkammer hinaus in einen sonnendurchfluteten Garten.

Ein heikles Genre

Umgekehrt hat Silvia Bovenschen nun ihre langjährige Partnerin porträtiert: „Sarahs Gesetz“ heißt ihr neues, gerade erschienenes Buch. Eine Revanche, wenn man so will, und ebenfalls eine Liebeserklärung, jenseits der üblichen biografischen Konventionen.

Frei springt die Autorin von einem Gedanken zum anderen Erinnerungsschnipsel, lässt die Partnerin selbst zu Wort kommen, versucht die unterschiedlichen Persönlichkeits­aspekte der Geliebten zu begreifen und weiß doch von Anfang an, dass das unmöglich ist: „Von Stundan“, schreibt sie über ihre erste Begegnung Anfang der siebziger Jahre, „begann meine Sarah-Hermeneutik, die nun schon an die vierzig Jahre währt. Ich glaube nicht, dass ich zu endgültigen Befunden kommen werde. Ich glaube nicht einmal an die Möglichkeit endgültiger Befunde. Ich glaube nicht, dass wir einander wahrhaft kennen können. Bei aller Liebe nicht. Und wir sollen es auch nicht wollen.“

Künstlerische Porträts sind ein heikles Genre – sowohl für den sich subjektiv inszenierenden Künstler als auch für seinen zwangsläufig objektivierten Gegenstand. Stoßen die Projektionen, Wünsche, Erklärungen und Verklärungen des Porträtierenden auf das Einverständnis des Porträtierten? Wer wen wie sieht (und das öffentlich zum Ausdruck bringt), das ist, wie in realen Beziehungen, eine umkämpfte, libidinös aufgeladene und existenzielle Frage.

Gebote der Diskretion

Interessanterweise erheben auf dem Feld der Literatur Porträtierte öfter Einspruch gegen ihre Darstellung als in der Bildenden Kunst. Der von seiner Expartnerin Esra samt Mutter verklagte Maxim Biller ist Legende; von Karl-Ove Knausgårds Ehefrau Linda wird berichtet, dass sie nach der Lektüre seines sechsbändige Lebensromans einen Nervenzusammenbruch erlitt. Gerade dort, wo Beziehungen verhandelt werden – aktuell berichtet in Monique Schwitters erkennbar autobiografisch geprägter Roman „Eins im Andern“ die Ich-Erzählerin unter anderem von einer Krise mit ihrem spielsüchtigen Ehemann –, geht es nicht immer diskret zu. Können Bücher mehr ausplaudern als ein Bild? Überragt die Behauptungskraft der Sprache die der visuellen Kunst?

„Die Gebote der Diskretion. Ich werde sie auch wahren im Zusammenhang mit diesem Buch“, verspricht Silvia Bovenschen in „Sarahs Gesetz“. Die Autorin, deren Suhrkamp-Band „Die imaginierte Weiblichkeit“ zu den Klassikern des akademischen Feminismus gehört und deren Essays oft Brücken schlagen zwischen Wissenschaft und persönlicher Erfahrung, betritt das verminte Porträtgelände natürlich hoch reflektiert. Ihr Buch ist anscheinend nicht in stiller Abschottung, sondern in lebhaften Austausch mit Schumann entstanden, so wie umgekehrt auch Schumanns Malerei immer wieder das Gespräch zwischen den Partnerinnen inspiriert hat. Seit zwölf Jahren erst lebt das Paar zusammen in Berlin; zuvor ließen sie sich viel freien Raum: Bovenschen an der Frankfurter Goethe-Uni, während Schumann von Berlin aus die Welt bereiste. Beide trafen sich unter anderem bei den Themen Feminismus, Tiere, Kunst und spät in der Skepsis gegenüber digitaler Technologie.

Allen Skrupeln zum Trotz versucht Silvia Bovenschen, sich ein Bild von der Freundin zu machen: Behutsam fragt sie nach der Vergangenheit der 1933 Geborenen und rekonstruiert in Fragmenten einen Lebensweg, der von früher Kriegs-, Flucht- und Trennungserfahrung geprägt war sowie von Künstler­eltern, die sich nicht für ihr Kind interessieren. Dafür sprechen sowohl das erwartungsvoll aufgesparte Marzipanschweinchen, das der Vater zur maßlosen Enttäuschung der Tochter heimlich ausgehölt und aufgegessen hat, als auch die Mutter, die die 15-Jährige im Streit in die Großstadt Hamburg ziehen lässt, ohne ihr „auch nur ein Handtuch“ mitzugeben. Dieses „vernachlässigte Kind“ erkennt die in bürgerlicheren und wohl auch glücklicheren Verhältnissen aufgewachsene Silvia in der erwachsenen Künstlerin wieder. „Vulgärpsychologie“, tadelt die Autorin sich da gleich selbst.

Silvia Bovenschen: „Sarahs Gesetz“. Fischer, Frankfurt a.M. 2015, 256 Seiten, 19,99 Euro

Scheitern inbegriffen

Die durch eine lange und schwere Krankheitsgeschichte (Multiple Sklerose, Krebs) immer wieder auf die Hilfe der Freundin angewiesene Silvia bewundert Sarahs Kraft und Selbständigkeit. Künstlerisch, aber auch in beinahe jedem anderen Aspekt ihres Lebens sei Schumann Autodidaktin, die ihre Regeln selbst aufstellt. Scheitern inbegriffen: In den sechziger Jahren kauft die Freundin eine verrottete Villa im Piemont, die sie ohne eigene Mittel und gegen alle Vernunft im Alleingang zu renovieren versucht. Nach wenigen Jahren endet das Experiment auf „Bonnie’s Ranch“, so der Kosename der Westberliner Karl-Bonhoeffer-Nervenklink.

„Sarahs Gesetz“ bezeichnet jedoch nicht nur die einmal beispielhaft angeführte Überzeugung, dass der gemeinsame Haushalt ohne Untertassen auskommen müsse, sondern auch ein Selbsterhaltungs- und Lebensprinzip, das zu ansteckender künstlerischer Vitalität führt und dazu, „dass das Leben mit Sarah nie langweilig wird“.

Wer Tod und Verlust vor Augen hat, konzentriert sich auf das Wesentliche: Diese Maxime scheint beide Frauen zu leiten, Sarah wie Silvia. Entsprechend zeigt sich Bovenschens Schreiben von fast allen Ornamenten und intellektuellem Glänzenwollen befreit. „Das Bildnis hat nicht den Anspruch, das letzte Wort zu seiner Erscheinung zu sein, es fingiert nicht die endgültige Bestimmung einer Individualität“, schreibt Bovenschen in einem der dem Buch angehängten, anfangs noch recht akademischen Vorträge – ein Sound, von dem sich die Nichtautodidaktin erst befreien musste –, über Schumanns Por­trätbilder. Und zu einer viel später entstandenen, gleichfalls beigefügten Selbstdarstellung Silvias „sagt Sarah: Das bist du doch gar nicht. Stimmt, sage ich, das bin ich nicht, es ist nur die Wahrheit.“

Das gilt auch für dieses kondensierte Porträt einer Liebes- und Arbeitsbeziehung, das vielleicht nicht an jeder Stelle der Wirklichkeit, aber doch spürbar und klug der Wahrheit dieses Paares verpflichtet ist. Nicht ohne Pathos steuert es auf seinen finalen Satz zu: „Das aber, was mich in dieser neuen fremden Welt noch hält, hat einen Namen: Sarah Schumann.“