Die griechische Metropole Thessaloniki: In Sichtweite des heiligen Bergs

Die Hafenstadt Thessaloniki lassen Touristen meist links liegen. Ein Fehler. Die vitale Metropole bewegt und ist ein Mosaikstein auf dem Balkan.

Die Regenschirm-Skulptur von Giorgos Zogolopoulos in Thessaloniki

Die Regenschirmskulptur von Giorgos Zogolopoulos in Thessaloniki. Foto: Harriet Wolff

„Manchmal folgen Städte eine auf die andere am selben Ort und unter demselben Namen, sie werden geboren und sie sterben, ohne sich gekannt zu haben, ohne miteinander im Gespräch gewesen zu sein.“ Italo Calvino

Der Bote reitet auf dem Rad ein. Es weht ein frischer Wind durch die Häuserschlucht im Stadtzentrum. Der Wind dimmt die Mittagshitze, und er schärft den Blick. Der Adressat des Boten ist beschäftigt. Zwei Handys liegen vor ihm auf dem Kaffeehaustischchen, daneben steht ein Café frappé. Die Dokumente, die der Mann abzeichnet, sie segeln fast im Wind davon.

Spiros Pengas ist stellvertretender Bürgermeister von Thessaloniki – fast hätte er kürzlich einen Sitz für die liberale Partei Potami im Parlament errungen, doch jetzt kümmert er sich erst mal weiter um das Image der nordgriechischen Hafenmetropole. Die kommt im Windschatten des mächtigen Athen besser in der griechischen Dauerkrise voran als die schwerfällige Hauptstadt selbst. Nur weiß das fast keiner außerhalb der Stadt, und das will Pengas ändern.

Thessaloniki oder kurz Saloniki, wie die fast eine Million Einwohner die zweitgrößte Stadt in Hellas nennen, lebt mit dem Ruf einer heruntergerockten griechischen Großstadt am Meer, die flüchtig passiert, wer auf die touristisch Eins-a erschlossene Chalkidiki reist. Was die Sauberkeit angeht, den Müll, hat der unkonventionelle Bürgermeister Giannis Boutaris, der 2009 die liberale Kleinpartei Drasi mitgründete, mittlerweile aufräumen lassen. Er war sogar extra nach Berlin (sic!) gereist, um sich von der dortigen Stadtreinigung zum Thema Müllmanagement beraten zu lassen. Resultat: Das Zentrum Salonikis ist jetzt um ein Vielfaches blanker geputzt als das von Berlin.

Boutaris, 73, ein wohlhabender ehemaliger Winzer mit Ohrring und Karohemd statt Anzug ohne Krawatte, wie ihn die meisten griechischen Politiker tragen, versucht seit Ende 2010 bei den Bürgern seiner Heimat ein historisches, aber auch ein umweltfreundliches Bewusstsein zu fördern. „Boutaris ist lässig und besessen“, meint Pengas, Mitte 40. „Giannis liebt diese Stadt, die immer schon international geprägt war und nicht klassisch griechisch.“ Und die perfekt ist für eine Städtereise, erleichtert durch viele direkte Flugverbindungen nach Deutschland.

„Du kannst dich in dieser lichtstarken, leicht anarchischen Stadt nicht verlaufen. Du kriegst hier immer den Überblick“

An Saloniki, das noch eine intakte, hügelige Altstadt und eine wuselige, moderne Unterstadt am Meer besitzt, zeigt sich exemplarisch europäische Geschichte. Denn in Saloniki, das bis 1912 unter türkischer Herrschaft war – und das von 1430 an –, kreuzen und verhaken sich die Wege von Kulturen, Religionen und Volksgruppen, von freiheitlichen Ideen und nationalistischen Abgründen. Transit und Transformation gehören zu dieser Stadt, die seit ihrer Gründung 312 v. Chr. inmitten zentraler Nord-/Süd- und Ost-/Westhandelswege lag.

Als Athen erst 1830 von einem mit antiken Sehenswürdigkeiten überbordenden Dorf zur Hauptstadt der Hellenen aufrückte, sprach Saloniki unter anderem türkisch und ladinisch, hebräisch, französisch und griechisch. Christen, Juden und Muslime lebten hier weitgehend friedlich und meist in gemischten Vierteln zusammen. Doch nach den Balkankriegen und dem Griechisch-Türkischen Krieg kam es bis 1923 zu einem lapidar genannten „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Türken und Griechen. Amtlich verordnet verließen Hunderttausende von ihnen ihre eigentliche Heimat. In der verwinkelten Ano Poli von Saloniki, der Altstadt, strandeten damals viele mittellose Griechen aus dem türkischen Izmir. Heute noch stehen in der Ano Poli viele ihrer gedrungenen Behausungen, manche in desolatem Zustand, andere liebevoll hergerichtet.

Mannigfaltige Geschichten und Gespräche sind es, die sich über die Stadt am Thermaischen Golf erzählen lassen, die sich erst 1869 dem Meer zuwandte. Damals ließ der herrschende Sultan die byzantinische Stadtmauer am Wasser einreißen, die Unterstadt wurde mit breiten Straßenachsen europäisiert. Seitdem ist er bei klarem Wetter vom Ufer aus zu sehen: der Olymp, der Berg der Griechen – drüben, auf der anderen Seite des bewegten Meeres.

Unterkunft: Angenehm sind die zentralen und familien-geführten Hotels Excelsiorund City Hotel, DZ ab 75 €, www.macedonianhotels.grIn der Altstadt ist das freundliche Little Big House, DZ ab 45 €, www.littlebighouse.grPool bietet das Hotel Nikopolisaußerhalb der Stadt, DZ ab 90 €, www.hotel-nikopolis.com

Essen und Trinken: Agioli, Leoforos Nikis 15 (Wasserblick und lecker Fisch); Igglis, Irodotou 32 (gemütliche Altstadt-Taverne); Café Bazaar, Papamarkou 34

Websites: www.discovergreece.com/de; www.thessaloniki.gr/en

Radverleih an der Nea Paraliabeim Hotel Makedonia Palace, www.bikeitrentals.com

Stadtführungen: Sotiria Kokkonaki (spricht deutsch), sotik71@otenet.gr oder: www.thessalonikiwalkingtours.com Diese Reise wurde unterstützt von Marketing Greece und Aegean Airline

Im Strom

Es sind Menschen in einem Pulk, der nicht abreißt, die zum Sonnenuntergang an der Neo Paralia entlangflanieren, der seit einigen Jahren aufgehübschten, kilometerlangen Uferpromenade. Sie schieben Kinderwagen, sie küssen sich oder knabbern Popcorn, es sind Rollis dabei und Skater, und man wird das Gefühl nicht los, dass hier keiner mehr an politischen Diskussionen interessiert ist. Krise? „Wir sind in der Neurozone. Punkt“, sagt ein Maiskolbenverkäufer aus Bulgarien in bestem Englisch.

Aus dem Dunkel des Maison Crystal, eines lang gezogenen Flachbaus und einstigen Restaurants, treten Katerina Kotzia and Korina Filoxenidou. Die beiden Architektinnen, die 2006 auf der Biennale in Venedig den griechischen Pavillon kuratierten, waren verantwortlich für den Umbau des Maison Crystal. Doch seit ein paar Monaten liegt hier alles brach. „Verschiedene Gruppen finden kein gemeinsames Nutzungskonzept. Jeder will allein den Zuschlag. So verhindert man sich gegenseitig“, sagt Korina, und es klingt müde.

Dann aber erzählt sie von Arbeitsprojekten der beiden, von Um- und Ausbauten, vom Anstrampeln gegen die Krise. Beim Abschied sagt Katerina unvermittelt: „Ich hoffe, dass hier Ärger und Hass nicht gewinnen. Aber ich fürchte, doch. Falls die Faschopartei Goldene Morgenröte richtig stark wird, verlassen wir Thessaloniki. Und das Land.“

Im Horror

Es ist drückend warm an diesem Ort. Die Luft steht zwischen zwei Reisegruppen aus Israel, die still durch das überschaubare Jüdische Museum wandern. Aus Lautsprechern kommen erzählende Stimmen auf Hebräisch. Manche dieser Stimmen stocken, manche zittern, manche klagen an. Auch wenn man kein Wort hebräisch spricht, geht einem das Aufgezeichnete nahe. Hinsetzen, sich Luft zufächeln. 1870 lebten in Saloniki 70.000 sephardische Juden und Jüdinnen, viele von ihnen besaßen aus Spanien vertriebene Vorfahren – bereits 1492 kamen 20.000 von ihnen. „Die Mutter Israels“ war der Beiname Salonikis.

Griechisch sprachen meist nur die Jüngeren, die Älteren Ladino, die romanische Sprache der Sephardim. Im Februar 1943, als in Saloniki die SS einmarschierte, waren 50.000 der damals über 250.000 Einwohner jüdisch. Rund 49.000 wurden nach Auschwitz deportiert. Fast alle kamen dort um. Der Rest war untergetaucht, einige hatten sich ins umliegende Gebirge geflüchtet. Im alten Bahnhof, wo die Züge ins Vernichtungslager abfuhren, soll ein Holocaust Memorial Center entstehen, ein Denkmal gibt es an anderer Stelle schon. Verloren steht es am Rande eines unwirtlichen, zentralen Parkplatzes. 2013 hatte Boutaris, der Bürgermeister, einen Gedenkmarsch für die Deportierten organisiert. Es war der erste nach 70 Jahren in Thessaloniki.

Im Aufbruch

An der Vasilissis Olgas, dort, wo es zum martialisch klingenden War Museum abgeht, liegt das Libre 12, die „Schule der Freiheit“. Die einst elegante Villa – nur wenige großbürgerliche Anwesen aus dem 19. Jahrhundert gibt es heute noch zwischen modernen, gesichtslosen Wohnblöcken – gehört der orthodoxen Kirche. Bis vor Kurzem stand das Gebäude leer, verfiel langsam. Jetzt ist es ein bestens organisiertes besetztes Haus. „Wir wohnen dort nicht, aber es ist ein Treffpunkt für Sprach- und Tanzkurse, für Politdiskussionen oder für eine Mahlzeit gegen Spende“, berichtet Mary Zarkantzia, Anfang 40. Sie steht hinter einem wuchtigen Tresen und schenkt selbst gebrautes Bier aus.

„Wir leben in ständiger Sorge, dass die Kirche uns rauswirft.“ Vielleicht sind die Popen aber auch nur froh, dass die Bude in Schuss gehalten wird – „die Miete, die die haben wollen, können sie momentan vergessen. Entweder haben die Leute kein Geld oder sie halten es zusammen.“ Wenig später schließt Mary die Tür zum „Sozialen Mini Market“ auf: Privatleute vertreiben hier, was Garten und Fantasie hergeben, und das zu fairen Preisen. „Wir müssen uns selbst verwalten, vom Staat gibt es nichts mehr zu holen.“

„Fuck gold, fuck money, fuck capitalism“: Ein zierliches Graffito ziert eine Mauer in der Fragon-Straße, im ehemaligen jüdischen Handelsviertel. Die Passage aus dem 19. Jahrhundert steht leer, „und ohne Investor stürzt die bald ein“, meint Dimos und hört rein ins Rund, das auf den Plattenteller kommt. Dimos organisiert das Festival „Stamp“, ein temporäres Projekt, das in der Passage Künstlern und Goldschmieden, Radlbauern und Stand-up-Comedians Raum und Zeit stellt.

„Wir haben keine Lust mehr auf noch einen Starbucks, wir wollen selbst wirtschaften. Das Schlimmste in Griechenland ist nicht die Krise, sondern die Art, wie die meisten von uns denken.“ Ähnlich wie die Architektinnen an der Neo Paralia kritisiert der Mittdreißiger, dass „nur wenige Griechen teilen und teilnehmen wollen an der Gesellschaft.“

Die Platte hat einen Hänger, Dimos sucht nach einer neuen. „Take care of your place“, sagt er auf Englisch, „das bedeutet für die meisten, es sich jammernd zu Hause nett zu machen.“ Das Konsortium, das die Passage verwaltet, wolle das Stamp-Festival in keine reguläre Nutzung überführen. „Lieber lassen die ihre Hütte verfallen.“ Vom Staat gab es auch schon vor Beginn der Krise 2010 null Unterstützung, was die Renovierung historischer Gebäude angeht. „Viel wird unter Denkmalschutz gestellt, aber es gibt nie Geld für Fassaden. Wer nicht in ein EU-Programm reinrutscht, zahlt alles selbst.“ Vom Plattenteller kommt jetzt „Wouldn’t it be nice“ von den Beach Boys.

Im Geschäft

Es gibt ihn in Grundzügen noch, den orientalischen Basar von Saloniki in der Unterstadt. Seine Sträßchen, seine mit Fischen überbordenden Stände in der Kapani-Markthalle, seine Passagen, in denen nur Schuster und Schneider hantieren, oder BHs in Übergrößen und Sesambrotkringel verkauft werden, lassen ihn wie ein mannigfaltiges Wurzelgeflecht der Stadt erscheinen. Es riecht nach Schuhwichse und Makrelen, nach Meer und Hitze, und dann ist da noch Babis, der menschliche Mittelpunkt des Cafés Bazaar, Halbglatze und immer eine Geschichte auf Lager, nie anbiedernd.

Das Bazaar ist ein unprätentiöser Treffpunkt, man sitzt an schlichtem Holz, niemand verabredet sich hier, denn irgendjemand, den man kennt, ist immer da. Und genehmigt sich vielleicht noch ein paar Essensschweinereien, etwa Kolokithokeftedes, frittierte Zucchinibällchen. Als es ans Zahlen geht, sagt Babis schlicht: „Geht aufs Haus.“

Im Himmel, in der Hölle ...

Wer den Resten der byzantinischen Stadtmauer folgt, wer im hellen Licht aufsteigt Richtung Ano Poli, für den fädelt sich ein Stück Historie auf, das von Macht und Unterdrückung, Umwälzungen und Sehnsüchten erzählt. Die bruchstückhafte Mauer verläuft zu einem Teil unweit der Egnatia-Straße, die an die Via Egnatia erinnert, den früheren Verkehrsweg zwischen Rom und Byzanz, dem heutigen Istanbul.

Saloniki war einst Hauptstadt der römischen Provinz Macedonia und ab 300 n. Chr. eine Residenz des Römischen Reiches. Die damals errichtete Rotunda, auch Agios Georgios genannt, besaß die weltgrößte Ziegelkuppel, und sie spiegelt heute wechselvolle Geschichte. Ursprünglich eine christliche Kirche mit prächtigen Mosaiken verwandelte sie sich 1590 in eine Moschee mit Minarett. Ab 1912, als die türkische Herrschaft in Saloniki endete, wurde sie wieder zur Kirche, das Minarett beließ man. Heute ist die Rotunda ein Museum, in der Ostapsis steht ein geweihter Altar.

Weiter geht es, zackig Kopfsteinpflaster bergauf, dem Geburtshaus von Kemal Atatürk entgegen, dem Begründer der modernen Türkei und deren erster Präsident 1923. Es ist ein hellrosa gestrichenes Haus, typisch ausladend im ersten Stock, mit Holzfensterläden. Türkische Touristen stehen vor dem Gebäude – seit 2011 gibt es wieder Direktflüge. Bürgermeister Boutaris hatte sich dafür starkgemacht: Ressentiments sollen keinen Platz mehr haben. Und lukrativ sind die Reisenden aus dem Nachbarland allemal.

Wer sich ausruhen will auf dem Weg nach oben in die Altstadt, ganz nach oben zur Festung Eptapyrgio, der findet sie: eine der verwunschenen, meist byzantinischen Kirchen, in denen er, wie vor der des heiligen Nikolaus, von lebenden Schildkröten begrüßt wird, oder vielleicht schlägt ein Pfau sein Rad wie am Vlatadon-Kloster. Oder aber es belohnt ein Panorama von Saloniki.

Der dortige Leiter des Goethe-Instituts, Peter Panes, fasst es so: „Du kannst dich in dieser lichtstarken, uneitlen und leicht anarchischen Stadt nicht verlaufen, du kriegst hier immer wieder den Überblick.“

Den besten Blick über das weißgetünchte Stadtmosaik bietet ein Ort, in dem Musik ein Ausweg war: die Festung Eptapyrgio auf der Akropolis. Sie war bis 1989 ein Gefängnis, und sie war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Geburtsort der Rembetikomusik, dieses griechischen Blues, der das Lauteninstrument Bouzouki braucht und der vom Leben erzählt, von verflossenen Lieben und Sorgen, von Armut und Glücksmomenten. Viele Häftlinge, immer wieder auch politische, fanden sich zusammen, ganze Bouzouki-Orchester spielten in der Festung auf. Heute wird sie als Veranstaltungsort genutzt.

... und auf dem Wasser

Rührend diese Boote. Und ganz schön laut. Aber lustig – perfekt, um Abstand von Saloniki zu gewinnen. Direkt beim Wahrzeichen der Stadt, dem wuchtigen Weißen Turm am Beginn der Neo Paralia, liegen die Schiffe, die jeden gratis mitnehmen, der ein Getränk an Bord konsumiert. Und dann geht sie los, die kleine Rundfahrt in der großen Bucht von Thessaloniki, und man trinkt aus seiner Alpha-Bierdose und blickt auf eine Stadt, in der gerade die Lichter angehen. Es ist blaue Stunde, früher Abend, und die Stadt wird einen nicht mehr loslassen.

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