Die Spieluhr dreht sich, der Abstieg naht

THEATER Das Drama der drohenden Arbeits-losigkeit – darum dreht sich alles in der Drama-tisierungvon Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“ durch Michael Thalheimer am Schauspiel Frankfurt

Unaufhaltbar wickelt sich der darwinistische Prozess der Verdrängung des Schwächeren ab, unterstützt von Bert Wredes lichten musikalischen Loops, die an eine Spieluhr erinnern

Es ist eine ungeheure Liebesgeschichte: In Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“ widerstehen zwei den Verhältnissen. Kaum haben Johannes und Emma Pinneberg, genannt Lämmchen, geheiratet, schon ist ihre Existenz bedroht. Am Horizont der Geschichte dräuen die Weltwirtschaftskrise und das Ende der Weimarer Republik. Bedroht von Armut und sozialem Abstieg ringen Pinnebergs um ihre Würde und finden sie in der Liebe.

Falladas 1932 erschienener Roman erlebt seit 2008 eine Renaissance, liest sich doch die Geschichte des kleinen Angestellten beklemmend heutig. Auch die Theater reizte der Stoff, unter anderem haben in den letzten Jahren Luk Perceval in München und David Bösch in Bochum Adaptionen vorgenommen. Am Schauspiel Frankfurt hat nun Michael Thalheimer den „Kleinen Mann“ auf die Bühne des Großen Hauses gebracht. Zuletzt inszenierte der Regisseur hier eine düster-clowneske „Maria Stuart“ und eine atemberaubende „Medea“. Beide wurden bei ihm zu Figuren, deren undurchdringliche Einsamkeit aus den Machtverhältnissen erwächst, in die sie verstrickt sind. Ähnlich ergeht es nun Pinneberg und Lämmchen. Mit ihnen kämpfen zwei Menschen Anfang 20 um ihren Platz in der Welt, der rasch auch das Söhnchen, genannt Murkel, umfasst.

Gesellschaftliche Teilhabe ist unauflöslich mit einem Arbeitsplatz verknüpft, und um den steht es beim ausgebildeten Herrenkonfektionsverkäufer und Gelegenheitsbuchhalter Pinneberg wackelig. Tyrannische Chefs, unbezahlte Überstunden, Rationalisierungen und wachsender Leistungsdruck machen dem Empfindsamen, Stolzen zu schaffen.

In einem unerbittlichen Raum stellen Thalheimer und sein Bühnenbildner Olaf Altmann Liebespaar und Gesellschaft einander gegenüber: Im Hintergrund stehen neun Schauspieler erhöht im Gegenlicht, vor ihnen fällt eine schiefe Ebene herab zum Vordergrund, zum Reich der Pinnebergs: ein sandfarben eingefasster, bühnenbreiter Rahmen.

Der Chor, das Über-Ich

In ihrer nur zweistündigen Bühnenfassung haben Thalheimer und Chefdramaturgin Sibylle Baschung den Roman geschickt auf Schlüsselszenen zusammengestrichen und ganz auf das Drama der drohenden Arbeitslosigkeit konzentriert. Wie in der antiken Tragödie steht Pinneberg ein Chor gegenüber, ein Über-Ich, das gesellschaftliche Anforderungen formuliert.

„Bloß nicht arbeitslos werden!“, bellt er ein ums andere Mal, während Nico Holonics dieses Mantra auf der Vorderbühne angstgebeugt wiederholt. Die Chefs und Kollegen, Mutter Mia Pinneberg (Stephanie Eidt) und ihr schmieriger Liebhaber Jachmann (Michael Benthin) lösen sich zum kurzen Schlagabtausch aus dem Chor heraus. Unaufhaltbar wickelt sich der darwinistische Prozess der Verdrängung des Schwächeren ab, unterstützt von Bert Wredes lichten musikalischen Loops, die an eine Spieluhr erinnern.

Holonics Pinneberg ist ein blasser, stiller Jedermann, der plötzlich auffährt, wenn der Innendruck zu hoch wird. Die kleine, heile Welt der Pinnebergs wird durch des Lämmchens unerschütterliche Zuversicht zusammengehalten, sie weiß, was gut ist und was richtig. Ihre Liebe zaubert ein himmelweites Lächeln auf Henrike Johanna Jörissens Lippen, ihre Stimme ist ein monotoner Singsang, der sich zum Satzende wie zu einem Fragezeichen erhebt. Immer wieder stehen die Liebenden still beglückt beieinander und kosten Nähe aus. In glücklichen Momenten hebt Pinneberg sein Lämmchen empor, und sie wippt mit den Füßen in der Umarmung.

Bei Thalheimer jedoch ist diese Liebe nicht ungeheuer, sie kann sich nicht dauerhaft über ihre Verhältnisse erheben, sondern zerschellt an ihnen. In einem furiosen Monolog, in dem er abwechselnd in dritter und erster Person von sich spricht und so zum Beobachter seiner selbst wird, blickt Pinneberg nach 14 Monaten Arbeitslosigkeit der Tatsache in die Fratze, dass er nicht mehr dazugehört. Die Heimkehr zu Lämmchen wird ihm unmöglich: Wie ein Fremder schleicht er sich an sie heran, mit aufgerissenem Hemd und Revolver hinterm Rücken. „Sind wir denn gar nichts mehr? Bin ich denn ganz allein?“, greint sie ihre Verlassenheit hinaus. Und erhält, anders als bei Fallada, keine Antwort. Dicht stehen sie noch einmal beieinander, der Schatten und das lichte Mädchen. Und dann wird es Nacht um sie. ESTHER BOLDT