Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 12: Schuhe für den großen Fisch

Oma Heinrich hockte auf dem Friedhof am Ende der Straße und streichelte ihrem Bienchen über den Kopf. Aufgeregt hüpften die Blau­meisen um die beiden herum. Nun, da der Winter nahte, verloren die Piepmätze die letzte Scheu, pickten Oma Heinrich in die Schuhspitzen und zwackten sogar der immermüden Pudeldame ins Fell.

Stoisch richteten beide ihre Aufmerksamkeit weiter auf den Grabstein. So selten Charlotte Heinrich, geborene Roth, ihren Mann besuchte, so überwältigt war sie jedes Mal aufs Neue. Wie viele Jahre war das nun schon wieder her, dass ihr Robert, der olle Sturkopp, Schuster und Partisan, vom Klapprad gefallen war? Einst hatte sie ihn ihrer besten Freundin vor der Nase weggeschnappt. Nun verweste Robert zu ihren Füßen und Elisabeth lag sterbend im Bett. Drüben. In Westberlin. Oma Heinrich erinnerte sich an die Postkarte, die ihr die Freundin hatte zukommen lassen, kaum dass die Grenzen gefallen waren:

„Liebe Charlotte, das ist meine Adresse. Es wäre schön, wenn wir uns wieder vertragen könnten.“

An den äußersten Rand hatte Elli ein paar Verse gekritzelt, die Charlotte noch jahrelang im Kopf herumspukten:

Der Kanal hat Dampfer und Ladekähne.

Der Kanal hat Fischkähne auf seinem Rücken.

Wie ging es nochmal weiter?

„So eine Scheiße aber auch!“

Die Eingangstür des blaulichtklemmte mal wieder. Kälte und Regen verzogen das Holz. Hildegard hatte so schlechte Laune, dass selbst der Psychopath, der schon dastand, weil er es nicht abwarten konnte, Bier trinkend auf den Tresen zu starren, rücksichtsvoll half, die Stühle von den Tischen zu räumen.

Ein Ende der Bauarbeiten, die die Gegend um ihre Kneipe, den Bioladen, den Supermarkt und das letzte unsanierte Haus in Atem hielten, war nicht abzusehen. Unaufhörlich knallte, rummste und bohrte es von allen Seiten. Selbst bei geschlossenen Fenstern und Türen schien es, als krieche der Dreck noch bis in die hintersten Winkel des Gastraums. Außerdem hatte sie es immer noch nicht geschafft, Fritze die Sache mit dem Schlüssel zu gestehen. Zwischenzeitlich hatte sie sogar solche Angst vor seinem Echo gehabt, dass sie mit den Gedanken spielte, den Schatz einfach wieder ins Klo zu werfen. Fertig! Aber inzwischen wussten zu viele Bescheid. Wie die Nachbarin vom Bioladen sie ständig angrinste! Auffälliger ging’s ja wohl nicht! Hildegard atmete tief durch, stellte dem Psychopathen blicklos sein Bier vor den Latz und genehmigte sich erst mal einen Sekt.

„Rike kommt vorbei?“

Annes Jungs waren am Morgen ganz begeistert gewesen. Sie liebten ihre Tante oder vielmehr deren Bauernhof, der malerisch vor den Toren der Stadt lag und immer auf sie zu warten schien. Tatsächlich hatten sie dort eine eigene Bleibe. Ohne ihre Schwester Rike wäre Anne nie auf die Idee mit dem Bioladen gekommen. Die hatte mittlerweile ein florierendes Unternehmen hochgezogen. An den Wochenenden war ihr Hof auf dem Gelände einer ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft ein beliebter Ausflugsort. Sie vermietete Scheunen und Nebengelasse für Geburtstagsfeste, Ferienspiele und als Filmkulisse.

Seit einiger Zeit belieferte Anne ihre Schwester mit Wein, Bier und selbst gemachter Bowle. Und zuletzt hatte sie den bewährten Holunderblütenpunsch geringfügig verändert. Am nächsten Morgen war die Mail gekommen. „Bin Donnerstag in der Stadt. Dann müssen wir feiern. Du bist eine Zauberin!“ Anne war nicht wohl dabei, Rike zu beschummeln. Doch es ging nicht anders

Hildegard stand noch immer allein mit dem Psychopathen im blaulicht herum. Wo blieben denn nur alle? War schon wieder Monatsende? Misstrauisch beobachtete sie die gegenüberliegende Straßenseite, wo Django, der beste Gitarrist aller Zeiten, auf jemanden zu warten schien. Tatsächlich fuhr eine schwarze Limousine vor, hielt und sammelte ihn ein. Saß da nicht wieder dieser Schnüffler drin, der seit Wochen sein Unwesen in der Gegend trieb? Einmal hatte sie den dabei erwischt, wie er ihren Müll durchwühlte.

„Kann ick helfen?“ Wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil war der Ertappte durch die Hofeinfahrt geschossen. Und der hatte sicher keine Flaschen gesucht. Hildegard wurde abwechselnd heiß und kalt. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren! Als die Tür aufflog und Fritze mit einem Schachbrett unterm Arm den Raum betrat, fiel jeder Ärger von ihr ab. „Hildchen, meine Sonne, wie ist es dir ergangen?“ Fehlte nur noch Heiner Müller. Der Abend war gerettet.

Foto: Nane Diehl

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

Oma Heinrich schleppte sich gedankenverloren das Treppenhaus hinauf. Sie konnte Bienchen im zweiten Stockwerk keuchen hören. An ihrer Haustür angelangt, hielt sie sich am Geländer fest, schnaufte selber erst mal durch und wartete auf die Pudeldame. Sie musste wieder an Heinrich denken. Was hätte er alles machen können, mit seinen Fähigkeiten und Talenten. Aber alles, was ihr Liebster wollte, war, die Schusterei wieder aufzubauen. Zeigen: Wir sind noch da. Wir haben überlebt. Als Bienchen endlich mit einer Bauchlandung im fünften Stock aufschlug, war Charlotte Heinrich wieder eingefallen, wie das Gedicht endete. Ein gewisser Günter Bruno Fuchs hatte es geschrieben:

Der Kanal hat eine Wasserleiche im Herzen.

Das Herz ist das Schauhaus.

Der Kanal hat einen Schuster geschluckt.

Der Schuster macht Schuhe für einen großen Fisch.

Das Wischwasser hatte den Ausguss verstopft. Anne pulte die Laubreste aus dem Siphon, als Rike einer Naturgewalt gleich in den Feierabend platzte. Ihre Worte prasselten wie ein unsichtbarer Regen auf die müde Anne ein. Der Holunder-punsch habe eingeschlagen, wie eine Bombe. Sie wolle unbedingt das Rezept haben. Dann hielt sie plötzlich inne, umfasste die feinen Hände ihrer Schwester mit den eigenen, rauen Bauernfrauenpfoten und flüsterte: „Anne, du wirst es nicht glauben, aber: Ich kann fliegen.“