Zugluft der Wirklichkeit

GRATULATION Die taz zu retten ohne Großkapital – konnte das gehen? Ja, sagt einer, der damals dagegen war

VON GÖTZ ALY

Nach wochenlangem Hin und Her fielen am 16. November 1991 die Würfel. Das Nationale Plenum der taz (der Name schon abscheulich) beschloss mit 132 gegen 58 Stimmen, die Zeitung an eine neu zu gründende Genossenschaft zu verkaufen. Die Mehrheit der Redakteure – darunter auch ich – wurde unter der Führung von Karl-Heinz Ruch (vulgo Kalle), Christian Ströbele und Jonny Eisenberg, den Leuten von der Technik, der Verwaltung und von denen auf den journalistischen Außenposten überstimmt.

Wir, die Minderheit, hatten die taz gleichfalls verkaufen wollen, aber nicht an Genossen und Genossinnen aus dem linken, auch damals schon ziemlich altbackenen Milieu, nicht an sozial bewegte FU-Professoren, an Erben mit Hang zur guten politischen Tat, erfolgreiche Szeneanwälte oder friedensselige Pfarrer und Oberstudienräte – wir suchten nach Profis, nach Kapitalgebern, hatten die Hungerleiderei und halbprofessionellen Zustände satt. Statt einer Genossenschaft strebten wir eine GmbH an. Wer genau als Teilhaber einsteigen sollte, blieb unklar. Immerhin hatte es Gespräche mit der Süddeutschen Zeitung und anderen Interessenten gegeben.

Die Gründe für die plötzliche und allgemeine Verkaufslust hatten unsere Brüder und Schwestern im Osten geschaffen. Ihr jäher, offensiv nur von meinen damaligen Kollegen Klaus Hartung, Max Thomas Mehr und Klaus Wolschner herbeigewünschter Einbruch in das wohlbehütete, immer alternativer werdende Westberlin hatte die taz einer bis dahin unbekannten Realität ausgesetzt: der Zugluft eigenverantwortlichen Wirtschaftens. Während die tazler es sich gerade in der Kochstraße vergleichsweise kuschelig und schick machten, wurden infolge der Wiedervereinigung die Subventionen für Westberlin gestrichen – also die Transferleistungen aus den Erträgen des westdeutschen Kapitalismus. Ohne sie hätte es die taz ja nie gegeben.

In den erregten Debatten hatten wir, die Vertreter des GmbH-Modells, unseren Gegnern im intern üblichen Ton linker Projekte vorgehalten: Die Genossenschaftsholding, die zu 100 Prozent Eigentümerin sämtlicher taz-Gesellschaften werden sollte, werde „wieder einmal die linke Spendenbereitschaft abzocken und bedeute wegen der ihr innewohnenden Perspektivlosigkeit eine Verarschung dieser Spender“. Tatsächlich ging es Ende 1991 um die Existenz der taz, und an jenem Samstag, als meine Mitstreiter und ich so schmählich unterlagen, war die 3562. Ausgabe der taz erschienen.

Ob die Anteilseigner der taz-Genossenschaft mit ihren Geldanlagen und ihrem ideellen Engagement zufrieden wurden und sind, weiß ich nicht. Aber eines ging mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich die taz las oder von einem ihrer journalistischen Erfolge hörte: Ich hatte mich am 16. November 1991 geirrt. Hätten damals diejenigen gewonnen, die unter den Stichwörtern „mehr Geld“, „Investitionen“ und „Professionalisierung“ den Anschluss an einen größeren Verlag suchten, dann wäre die taz längst verschwunden. Dann wäre heute nicht die 10.000. Ausgabe erschienen – zu der ich mit Freude gratuliere.

Götz Aly, 65, kam im Januar 1981 zur taz, blieb dort zwei Jahre und kehrte 1990 für weitere zwei Jahre zurück. Dazwischen und danach arbeitete er als Buchautor, Gastprofessor und Redakteur der Berliner Zeitung. Im März erscheint sein Buch „Die Belasteten. Die Euthanasiemorde 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte“ (S. Fischer).