Der Nabel der Technoszene

CHAMPAGNER AUS DEM HINTERHOF Die Berliner Techno-Institution Hardwax feiert 20. Geburtstag. Dabei ruht man sich in dem Kreuzberger Plattenladen nicht auf dem legendären Ruf aus, sondern holt die junge englische Dubstep-Szene nach Deutschland

■ Perlen von Hard Wax, ausgesucht von dem Berliner Musiker Torsten Pröfrock (alias Dynamo, Resilent, Traktor 9000):

1. Ron Trent: Altered States – Warehouse (1990). RT’s erste Platte, noch im Teenageralter produziert und einfach die Definition von zeitlos schönem House. Eine Platte, die sich auch nach 20 Jahren noch besser verkauft als vieles Neue.

2. Jeff Mills: Waveform Transmission 1 – Tresor (1992). Jeff Mills war ein Underground-Resistance-Gründungsmitglied und muss als einer der rastlosesten Künstler des Techno der 1990er-Jahre angesehen werden, welcher Musik und DJing zu schwer zu imitierender Intensität trieb. Waveform Transmission 1 ist nach wie vor reinst möglicher Techno.

3. Robert Hood: Minimal Nation – Axis (1994). Robert Hood war ein Underground-Resistance-Mitglied der ersten Jahre und schuf mit Minimal Nation ein Album, dessen technoider Reduktionismus in mehreren Neuauflagen die Zeiten überdauert hat.

4. Aphex Twin: Analogue Bubblebath 1 & 2 – Mighty Force & Rabbit City (1991). Richard James’ aka Aphex Twin’s Erscheinen in der Szene mit zwei Maxis und schwer zu übertreffender Durchschlagskraft. Ein immer noch überzeugendes Debüt eines der größten Talente der elektronischen, technoaffinen Musik überhaupt.

5. Ø: Metri – Sähkö (1994). Das finnische Sähkö-Label um Mika Vainio, Ilpo Väisänen & Tommi Grölund gehört seit den frühen 1990er-Jahren zum Kernprogramm des Ladens. Metri ist ein zeitloser Klassiker, der immer wieder Neuauflagen benötigt und auch immer noch im Angebot ist.

6. Erik & Fiedel: Donna – MMM (1997). Diskoinfizierter Berliner Untergrund-House, ebenfalls zum Klassiker geronnen und in gewissem Sinne auch eine Keimzelle des Hard-Wax-Vertriebs.

7. Basic Chanel: Phylyps Track II – Basic Chanel (1994). Phylyps Track II ist der Dubhouse Prototyp und gehört zum permanent präsenten Hintergrundrauschen der Szene.

VON ANDREAS HARTMANN

1989, als die Mauer in Berlin fiel, wurde auch der Berliner Plattenladen Hard Wax eröffnet. Was haben Wiedervereinigung und die Gründung eines Schallplattenladens in Kreuzberg miteinander zu tun? Beide Faktoren führten dazu, dass sich Berlin in den letzten 20 Jahren von der insularen Frontstadt zur pulsierenden Technometropole entwickelt hat. Der Fall der Mauer bot, so sagt der Berliner Trance-DJ Paul Van Dyk, einen „neu gewonnenen Freiraum“, und der „war die Basis für eine andere Ausgehkultur: ein Startpunkt für elektronische Musik“. Und das Hard Wax war und ist eine Anlaufstelle für alle, die diesen Freiraum mit zukunftsweisender elektronischer Musik bespielen.

Heute, wo Musik im Internet per Mausklick erhältlich ist, wagt man sich kaum vorzustellen, dass House- oder Techno-DJs Ende der 80er ein echtes Versorgungsproblem hatten. Im Plattenladen zur Wendezeit stand elektronische Musik noch nicht im Angebot, und der Einzelhandel verstand sich auch nicht darauf, Techno- oder House-Maxi-Singles aus den USA einzukaufen. Denn ganz richtig ist das ja nicht, was Paul van Dyk behauptet. Elektronische Tanzmusik existierte lange vor dem Mauerfall, ob Techno in Detroit, Garage in New York oder Acid-House in Chicago. Es fehlte an Spezialisten, die diese Musik im großen Stil nach Berlin importierten.

Dann mach ich das halt, dachte sich Mark Ernestus. Er hat Hardwax 1989 gegründet und betreibt den Laden noch heute. Für die Kunden besorgte er genau die Platten aus Übersee, die deutsche DJs bis dato nur vom Hörensagen kannten. DJs wie Rok oder Hell standen hier Schlange, um ja keine wichtige Platte aus den Lieferungen zu verpassen. Beide arbeiteten in den frühen Neunzigern deshalb auch selbst für eine Weile im Hardwax. Bis heute erzählt man sich in der Szene von der Goldgräberstimmung damals und was das Hardwax alles dafür getan hat, vor den anderen deutschen Plattenläden an rare Musik ranzukommen, mit der man auf der nächsten Party auftrumpfen konnte.

Ohne das Engagement von Ernestus hätte sich Techno in Berlin gar nicht so durchsetzen können. „Vor der Ladeneröffnung“, so Mark Ernestus, „war ein DJ immer jemand aus London oder New York. Auf der Weltkarte der Clubmusik war Berlin ein weißer Fleck.“ Und heute ist Berlin das Zentrum dieser Weltkarte.

Genau wie Anfang der Achtziger der unabhängige Plattenladen Rough Trade im Londoner Viertel Notting Hill als informelles Zentrum der Punk- und New Wave-Szene diente, wurde das Hard Wax schnell zum Nabel der gesamtdeutschen Technoszene. Womöglich wurde so zum letzten Mal in der Popgeschichte ein Plattenladen zum Dreh- und Angelpunkt einer musikalischen Revolution.

Taktgeber in großen Clubs

Heute ist Berlin nicht mehr bloß die Stadt der Freiräume, sondern auch der Gentrifizierung. Techno ist auch nicht mehr revolutionäre Maschinenmusik, sondern weitgehend standardisierter Taktgeber in den großen Clubs der Hauptstadt. Laptops und DJ-Software breiten sich dort flächendeckend aus.

Trotzdem floriert das Hard Wax weiter, gehört ein Besuch des legendenumrankten Ortes am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer zum Pflichtprogramm für alle Fans und DJs, die von irgendwoher für das Wochenende nach Berlin einfliegen. Versteckt in einem Hinterhof befindet sich der Laden, im vierten Stock eines Gewerbegebäudes. Immer noch sind die Regale an den Wänden voller anonymer White-Labels, stapeln sich Klassiker des Techno genauso wie die neuesten Veröffentlichungen aus der Londoner Dubstep-Szene. Es ist ein wenig so, als wäre die Zeit eingefroren in diesem Gemäuer mit abgerocktem Industriehallencharme. Als wäre es immer noch ungefähr 1993.

Der Laden läuft, bestätigt Mark Ernestus. Dafür, dass er eine der legendärsten Figuren der elektronischen Musik überhaupt ist, wirkt er verblüffend bescheiden, ja schüchtern. „Zumindest in meinem Umfeld“, sagt er, „wird immer noch hauptsächlich mit Vinyl aufgelegt.“ Natürlich hat man sich auch den Bedürfnissen der Kundschaft angepasst. Das Hard Wax ist auch eine Onlineplattform, die die ganze Welt beliefert. Auch ein Download-Portal gibt es jetzt. Hard Wax ist ein Markenname von internationaler Bedeutung geworden, man kennt ihn in Kairo so gut wie in Tokio, und die Kunden wissen: Auf die geschmackliche Kompetenz ist Verlass. Der Name Hard Wax ist ein Gütesiegel, der Champagner des Techno.

Wenn Mark Ernestus spricht, formuliert er jedes Wort wohlüberlegt. Manchmal macht er lange Pausen, fängt einen Satz neu an, bedächtig und stets konzentriert. Bis vor ein paar Jahren hat er gar nicht mit der Presse gesprochen. Er und sein damaliger Produzentenpartner Moritz von Oswald, mit dem er diverse, für die Entwicklung der elektronischen Musik in den Neunzigern maßgebliche Techno-Labels betrieb, waren der alten Idee verpflichtet, dass Techno eine Musik sein soll, die ohne Gesichter und Worte auskommen und sich ganz aus sich selbst heraus erklären soll. Anders als bei Moritz von Oswald kursieren bis heute keine Bilder von Mark Ernestus.

Das Hard Wax ist immer noch der Laden, dessen Hausflur mit Graffiti zugebombt ist

Diese Verweigerungshaltung gehört mit zum Mythos des Hard Wax. Man fühlt sich ein bisschen an das Gallierdorf von Asterix erinnert, in dem tapfer einer vermeintlichen Übermacht standgehalten wird. Die Stars der DJ-Branche sind heute Millionäre, und das Partybusiness ist nicht zuletzt in Berlin ein attraktiver Wirtschaftszweig. Das Hard Wax aber ist immer noch der Laden, dessen Hausflur mit Graffiti zugebombt ist und wo der Putz sich von den Wänden schält. Über Clubs wie das Frankfurter Cocoon mit angeschlossener Edelgastronomie sagt Mark Ernestus bloß schulterzuckend: „Das ist dann doch nicht meine Welt.“

Fast wieder am Anfang

Dennoch ist das Hard Wax alles andere als ein Museum klassischer Techno-Werte. Heute arbeitet eine neue Produzentengeneration hinter der Theke und baut darauf auf, was Ernestus und von Oswald als Produzententeam unter dem Namen Rhythm&Sound unter Bezugnahme auf klassische jamaikanische Musiktraditionen in den Neunzigern entworfen haben. Deren Dub-Techno, zum Trademark-Sound perfektioniert, wurde überall in der Welt kopiert und weiterentwickelt. Seit einiger Zeit beruft sich etwa die vitale britische Dubstep-Szene auf die Klangforschungen der Berliner. Dubstep ist nun – auch dank Hardwax – massiv in Berlin angekommen, die Stadt ist neben London Hochburg der Szene, so schließt sich der Kreis. Und in der Dubstep-Szene wird auch weiterhin Vinyl gekauft, vielleicht weil man diese mysteriös pumpende und rumpelnde Bassmusik durch taktile Annäherung ein wenig besser verstehen möchte.

Das Hard Wax begreift sich inzwischen als ein Laden, der mit ähnlicher Akribie frische Dubstep-Maxis von überallher besorgt, wie er damals in den Anfängen, House- und Techno-EPs aus aller Welt herankarrte. Nicht nur deshalb wirkt im Hard Wax alles wieder wie auf Anfang. Die Labelfamilie rund um den Plattenladen, die einflussreichen Technoplattformen wie Basic Channel und Chain Reaction sind erst einmal genauso auf Eis gelegt wie die Zusammenarbeit zwischen Mark Ernestus und Moritz von Oswald. Die aus der Kommandozentrale des Hard Wax geleitete Wiederveröffentlichung des beinahe gesamten Katalogs des wichtigen New Yorker Dub-Labels Wackies ist abgeschlossen, das hauseigene Mastering-Studio Dubplates&Mastering verkauft. Entschlackung ist angesagt, Ernestus kümmert sich wieder hauptsächlich um das Kerngeschäft, um den Plattenladen. Und er legt selbst fleißig Platten auf. Klassischen Reggae und Dub, seine eigentliche Lieblingsmusik. Er zeigt auf eine neue Lieferung klassischer Reggae-Platten aus London. „Es geht immer weiter“, sagt er, und sein Blick schweift über die grauen Wände seines kleinen Plattenladens.

■ Aus Anlass des 20. Hardwax-Geburtstags findet im Berliner WMF am 5. 12. eine große Sause auf mehreren Tanzflächen statt: mit den DJs Mark Ernestus, Mark Ainley, Electric Indigo, Substance, Shake Shakir, René Löwe, Sleeparchive, Shed, Prosumer u. v. m.