Blaukehlchen für 1,5 Cent

SCHLAGLOCH VON ILIJA TROJANOW Welchen Materialwert hat ein Vogel? Vom Nutzen grotesker Rechnungen

■ ist Schriftsteller und Weltensammler. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Juli Zeh: „Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“ (Hanser Verlag, 2009).

Was ist ein Blaukehlchen wert, fragt sich der Naturliebhaber auf seinem sonntäglichen Spaziergang. Seit Kurzem gibt es darauf kompetente Antwort: Der Materialwert beträgt 1,5 Cent. Das ist nicht viel, aber was ist an einem Blaukehlchen schon dran – ein wenig Blut, ein wenig Fleisch, einige Knochen und ein paar Mineralien in den Knochen.

Doch ein Vogel hat auch einen Nutzwert, er verspeist Schädlinge und fördert die Besamung der Pflanzen. Berücksichtigt man diese Funktionen, erhöht sich der Wert des Blaukehlchens auf sage und schreibe 150 Euro pro Vogel. Derartige Berechnungen haben die Naturschützer Jessel, Tschimpke und Walser in ihrem in diesem Jahr erschienenen Buch „Produktivkraft Natur“ vorgenommen und die drohende Entwertung des Blaukehlchens jüngst verhindert.

Wie gut, dass wir inzwischen auch die Natur einer nüchternen Kosten-Nutzen-Rechnung unterziehen können, wie schön, dass wir uns befreit haben von schäbiger Sentimentalität gegenüber der Schöpfung. Ist unsere Gesellschaft wirklich schon so krank, dass wir uns nur durch klimpernde Münze vom Naturschutz überzeugen lassen?

Rechenaufgabe mit Baum

Auch Bäume haben einen hohen Wert. Sie atmen Kohlendioxid ein und Sauerstoff aus, sie formen ein grünes Bollwerk gegen die Klimaerhitzung. Trotzdem werden sie weiterhin abgeholzt, was mit etwa einem Fünftel der Treibhausgasemissionen zu Buche schlägt. Was läge also näher, als Bäume zu bewahren, um den CO2-Fußabdruck auszugleichen? Zumal Bäume so günstig erhältlich sind, in Brasilien beispielsweise, wo amerikanische Konzerne jede Menge Bäume besitzen, General Motors etwa an der Atlantikküste, in einem der letzten Küstenregenwälder des Landes im Bundesstaat Paraná. Doch wie hoch sind die Kosten, sie nicht abzuholzen, und welchen Wert stellen sie in dem langsam an Fahrt und Profit gewinnenden Emissionshandel dar? Um das zu eruieren, wird der Durchmesser der eleganten Guaricica-Bäume (Vochysia bifalcata) gemessen, so als seien sie Mastochsen. Zusammen mit der Höhe errechnet sich so die Biomasse des Baumes und damit die Kohlenstoffmenge, die er bindet.

Bei einem stattlichen Guaricica sind das immerhin 95 Kilo, die auf den Emissionsmärkten einen Gegenwert von insgesamt etwa einem Dollar erzielen könnten. Um die Verpestung durch einen einzigen Hummer auszugleichen, müsste man allerdings 50 Bäume, deren Taille regelmäßig gemessen wird, hegen und pflegen. Noch ist solcher Ablasshandel nicht erlaubt. Seit dem Vertrag von Kioto dürfen sich Unternehmen zwar exkulpieren, indem sie in Entwicklungsländern Wiederaufforstungsprojekte finanzieren, auch wenn es sich nur um monokulturelle Plantagen wie etwa Eukalyptus handelt. Nicht vorgesehen ist bislang die Bewahrung existierender Naturwälder, und es ist fraglich, ob man sich bei beim Klimagipfel in Kopenhagen darauf einigen wird.

Denn so sehr die Mathematik stimmen mag, so pervers ist die Philosophie dahinter. Es ist so, als würde man mit dem Versprechen, einen Raub nicht zu begehen, weitere Räubereien rechtfertigen. Zumal die einheimische Bevölkerung mit Gewalt daran gehindert wird, den Regenwald nachhaltig zu nutzen. Der Naturschutz, den sie kultur- und traditionsbedingt betreibt, wird kriminalisiert.

Unberechnetes Fehlverhalten

Unser Wirtschaftswachstum basiert zum großen Teil auf einer Enteignung des Öffentlichen, also jenem Gut, das allen Menschen gehört oder – besser gesagt – den Menschen nicht gehört. Anstatt dieses Fehlverhalten zu korrigieren, sind wir dabei, absolut alles zu ökonomisieren, um angeblich der maßlosen Gier und Zerstörung einen Riegel vorzuschieben. Das nannte man früher den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wenn der Wert von allem berechnet werden kann, wieso können wir nicht das Gegenteil berechnen, die Zerstörung eines Wertes, den Antiwert sozusagen? Wieso wird weiterhin so getan, als sei die Menschheit in ihrer Gesamtheit an der Klimakatastrophe schuld?

Der berühmte Umweltschutzpionier James Lovelock („Gaia“) hat neulich Bevölkerungswachstum und Klimawandel als zwei Seiten derselben Medaille bezeichnet. Das impliziert, dass es nur auf unsere Zahl und nicht auf unseren Lebenswandel ankommt. Genau das ist aber nachweislich falsch. Afrika südlich der Sahara hat von 1980 bis 2005 18,5 Prozent der weltweiten Bevölkerungszunahme zu verantworten, aber nur 2,4 Prozent des CO2-Zuwachses. Die Bevölkerung Nordamerikas dagegen nahm um 4 Prozent zu, aber die dortigen Emissionen stiegen um 14 Prozent.

Antiwert der Konsumenten

Wenn der Wert von allem berechnet werden kann, wieso beziffern wir nicht die Zerstörung eines Wertes, den Antiwert?

Das Problem sind nicht zu viele Menschen, das Problem sind zu viele Konsumenten. Und da die Hälfte der Weltbevölkerung, die dahinvegetiert, aus ihrem menschenunwürdigen Elend befreit werden muss und wir uns weitere Konsumsteigerungen ökologisch nicht leisten können, ergibt sich logisch, dass es zu viele Reiche gibt.

Wir wissen inzwischen, wie viel ein Blaukehlchen wert ist, aber wissen wir auch, welche öffentlichen Werte ein Millionär zerstört? Nehmen wir einmal die sinnbildliche Jacht. Wie der britische Umweltaktivist George Monbiot kalkuliert hat, verbraucht die schicke Superjacht WallyPower 118 knapp einen Liter Sprit pro Sekunde, wenn sie auf Hochtouren fährt! Ähnliche Rechnungen könnte man für Privatjets und Helikopter aufstellen, ebenso für geheizte Schwimmingpools im Winter und für all jene weiteren Extravaganzen, die wohlhabende Menschen sich gönnen, meist aus keinem anderen Grund, als dass sie es sich leisten können.

George Monbiot stellt die Rechnung auf, dass hunderttausend Millionäre dem Planeten so viel Schaden zufügen wie zehn Milliarden afrikanische Bauern. Diese Gleichung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen und sogleich in das Dreisatzlehrbuch für die 5. Klasse aufnehmen. Da hilft es uns allen recht wenig, dass sich Millionäre recht zaghaft fortpflanzen. ILIJA TROJANOW