Sachsen-Anhalt im politischen Umbruch: Schweigende Heimat

Eddi Stapel ist Ortsbürgermeister im kleinen Bismark – ein Grüner, der die DDR-Schwulenbewegung initiiert hat. Der Erfolg der AfD macht ihn ratlos.

Eduard Stapel

Metzgersohn, Journalist, Theologe, Lokalpolitiker: Eduard Stapel daheim in Bismark Foto: Rolf Zöllner

BISMARK taz | Der familieneigene „Walk of Fame“ von Eduard „Eddi“ Stapel beginnt in der Diele und zieht sich siebzehn Stufen ins Obergeschoss hinauf. Unten hängt der Meisterbrief seines Vaters, ebenfalls ein Eduard, der ihn zum Fleischermeister beförderte. Oben schließt die Würdigung der City of Philadelphia für den Sohn des Fleischers für seinen Einsatz für Lesben, Schwule und demokratische Reformen in der DDR die Galerie ab. Dazwischen das Diplom in Journalistik, das theologische Examen und die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland, unterzeichnet vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog.

Natürlich fehlt einiges – der Ehrenvorsitz des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland und der Zivilcouragepreis des Christopher Street Day Berlin 2003 etwa. Aber es langt auch so. Eddi Stapel hat eh Mühe, die Treppe zu bewältigen. Sein Bruder, der im Erdgeschoss wohnt – Fleischer wie der Vater – scheuche ihn mehrmals täglich über die Stufen, damit er in Übung bleibt, lästert Stapel.

Jetzt hat er sich hinaufgekämpft, sitzt in seiner geräumigen Stube, einer Mischung aus Studierzimmer, Bibliothek und Bürgermeisterbüro, und sucht nach Gründen, warum die AfD in seinem Städtchen so erfolgreich abgeschnitten hat. „25 Prozent AfD hätt ich mir ja noch gefallen lassen“, sagt Stapel mit seiner überraschend klaren, tiefen Stimme. Das wäre etwa Landesdurchschnitt. „Aber 30?“ Er blickt fragend. Seine Haut ist glatt, die Gesichtszüge sind fein, die grauen Augen leuchten.

Nein, Eduard Stapel ist kein Pflegefall. Da sitzt ein einnehmender, ziemlich hagerer Typ, dem man die 62 nicht ansieht. Er kriegt nur schlecht Luft. „Zu viel geraucht“, wird Stapel später sagen, wird sarkastisch bemerken, dass da unter der Brust selbst der Krebs kein Futter mehr findet. Der dicke Pullover mit dem hohen weißen Kragen ist wie Hülle und Korsett in einem. 29,5 Prozent der Wähler haben in Bismark im Norden Sachsen-Anhalts bei der Landtagswahl am 13. März für die AfD gestimmt – Spitzenwert in der Region. Bismark ist eine AfD-Hochburg. Und sein Ortsbürgermeister Eduard Stapel ist Mitglied von Bündnis90/Grüne und schwul.

Häkeldeckchen mit Aschenbecher

Stapel sitzt vor einem Glastisch, darauf ein Häkeldeckchen, in der Mitte ein Aschenbecher. Ein sorgfältiges Arrangement. Und wirklich – jede Zigarette ist inzwischen ein seltenes Ritual. Das Leben ist für Stapel zerbrechlich geworden, und das liegt nicht an der AfD, die in Magdeburg gerade ihre 25 Parlamentssitze einnimmt und die Politik im Land umwälzen will.

Das Kruzifix, das schief auf einem Haufen Büchern steht wie auf einem winzigen Golgatha, ist die einzige Andeutung, dass hier ein Theologe wohnt. „Mir haben Leute erzählt, dass sie mit der Erststimme FDP und mit der Zweitstimme AfD gewählt haben. Wie passt das zusammen?“ Stapel greift nach einem Berg Zeitungen, als ob es dort Antworten gäbe. In der Volksstimme antwortet André Poggenburg, AfD-Chef von Sachsen-Anhalt, auf Fragen besorgter Leser. „Wie lange werden wir noch belästigt mit fremden Leuten?“, empört sich ein Herr. „Millionen kommen zu uns [. . .] ein erheblicher Teil als Kriminelle [. . .] Obergrenze null“, skizziert Poggenburg in einem Atemzug Problem und Lösung. „Wir sind übrigens auch nicht homofeindlich. Hier werden uns Dinge nachgesagt, die einfach falsch sind.“ Man meint, Poggenburgs Singsang aus dem Papier zu hören.

Eduard Stapel über seine Heimat-stadt

„Der Schwulenkram hat die nie interessiert“

„Stimmt nicht“, brummt Stapel. „Das ganze Familienbild der AfD ist konservativ.“ Die Homo-Ehe ist unerwünscht. Aber treibt das die Menschen in Bismark zur AfD? Bisher hat nur einer hier einen Mann geheiratet, das war vor sechs Jahren. Seitdem ist Stapel mit einem Afrikaner verpartnert. Zurzeit ist der 34-Jährige in der Heimat. Wo genau, will Stapel nicht in der Zeitung lesen, Homosexuelle werden dort verfolgt. „Ein schwuler Bürgermeister von den Grünen, der mit einem Schwarzen verheiratet ist“, fasst Stapel seine gesellschaftliche Stellung zusammen. Er lacht leise. Ein Versehrter, der sich mit der Aufwandsentschädigung für das Bürgermeisteramt die Rente aufbessert, wäre eine ebenso korrekte Beschreibung. Stapel braucht das Zubrot für sich und seinen Mann.

Hier ist er Eduard

Wissen die Leute hier um seine Geschichte? „Nee.“ Hier ist er Eduard Stapel, nicht „Eddi“, wie ihn sonst alle nennen, die mit ihm zu tun hatten – bis auf Bischöfe und Stasi-Offiziere. Hier ist er der Sohn des Fleischers aus dem Haus hinter der Kirche, der zwei Hochschulabschlüsse vorweisen kann und 1997 in seine Heimat zurückgekehrt ist. „Der Schwulenkram hat die nie interessiert.“ 2011 wählte ihn der Ortschaftsrat erstmals zum Ortsbürgermeister. Zum „Grüßaugust“, wie er spöttelt, der bei Goldenen Hochzeiten, bei hohen Geburtstagen und beim Karneval auftritt.

Der „Schwulenkram“ hat Stapel berühmt gemacht. Eigentlich ist es absurd, dass er sich jetzt, mit 62 Jahren und schwacher Brust, als Ortsvorsteher von Bismark mit unzufriedenen Einwohnern und der AfD herumschlagen muss. Eduard Stapel war angehender evangelischer Pfarrer, als er in den 80er Jahren DDR-weit Schwule aus ihren Nischen holte und ihnen Selbstbewusstsein einflößte. „Tabu Homosexualität – wie gehen wir damit um?“, steht auf dem Plakat, das im April 1982 in Leipzig zur Gründung des ersten „Arbeitskreises Homosexualität“ einlädt.

Stapel ist Ideengeber, Seelsorger, Stratege. Das bleibt auch der Stasi nicht verborgen. „Als Hauptorganisator einer ‚alternativen Bewegung‘ Homosexueller in der DDR muss den in den Dienststellen vorliegenden Hinweisen zufolge Eduard (‚Eddi‘) Stapel gelten“, notieren ihre Zuträger und liefern eine „Zusammenstellung erkennbarer Forderungen Homosexueller an die sozialistische Gesellschaft in der DDR – wie etwa die Zulassung homosexueller ‚Ehen‘ oder Adoption von Kindern durch homosexuelle ‚Paare‘ “.

Operation „After Shave“

Für die Genossen der Stasi waren das absonderliche Ideen absonderlicher Menschen. In ihrer Vorstellung waren Schwule Überträger von Geschlechtskrankheiten, konspirativ, verschlagen, „kontaktfreudig“ und anfällig für den Klassengegner. Auf Stapel setzt die Stasi 50 hauptamtliche und 150 inoffizielle Mitarbeiter (IM) an, Deckname der Maßnahme: „After Shave“.

„Neulich habe ich 51 Jahre Diabetes gefeiert und dreißig Jahre Krebs“, erzählt Stapel jetzt und zündet sich eine Zigarette an. Die Stasi hat schon vor dreißig Jahren auf seinen Tod gewartet. „Stapel ist hochgradiger Diabetiker und leidet an den Folgen einer Operation zur Verlegung des Mastdarmausganges“, notierten die Zuträger, viele von ihnen selbst schwul. „Er bringt dennoch große, fast unwahrscheinliche Energie auf zur Bewältigung vielfältiger Aufgaben in der Schwulenarbeit.“ Klingt da Anerkennung heraus? Stoppen konnten sie Stapel nicht.

Der hatte eine fertige Agenda, als die Wende kommt, ganz obenauf – Homo-Ehe, Gleichberechtigung, Gleichstellung. All das, was sie schon in den Arbeitskreisen als Forderungen formuliert hatten. Noch vor der deutschen Einheit gründet er im Februar 1990 in Leipzig, wo sich acht Jahre zuvor der erste „Arbeitskreis Homosexualität“ gegründet hatte, den Schwulenverband in der DDR, der sich im selben Jahr auf ganz Deutschland erweitert. Stapel holt junge Westdeutsche in den Bundessprecherrat, unter ihnen den Grünen Volker Beck.

Aus dem Schwulenverband wird 1999 der Lesben- und Schwulenverband (LSVD), der westdeutsche Bundesverband Homosexualität hatte sich 1997 aufgelöst. „Den haben wir totgepflegt“, frotzelt Stapel. Der Osten hat den Westen übernommen. Die eingetragene Lebenspartnerschaft kommt im Jahr 2001 unter Rot-Grün. 2010 hat Stapel seinen Freund geheiratet.

„Die sagen nichts“

Stapel ist zum Schreibtisch gegangen. Auf dem Fußboden liegt das Abfallwirtschaftskonzept des Landkreises, auf einem Stuhl die Broschüre „Grüne Politik für den ländlichen Raum“. Gestern Abend war Hauptausschuss, es ging unter anderem um Biogasanlagen. Manche Ratsmitglieder könnten gar nicht genug davon bekommen, erzählt er. Dabei gebe es schon fünfzehn, mit entsprechenden Folgen: Monokultur, steigende Bodenpreise, sinkende Artenvielfalt. Die Lebensgrundlagen schwinden. Nicht nur hier. Letzten Endes geht es dabei auch um Flüchtlinge und Fluchtursachen. Mit solchen Argumenten steht Stapel als einziger Grüner im Stadtrat ziemlich allein da.

31 Flüchtlinge gibt es in der Stadt, erzählt er. Es könnten mehr sein, doch Unbekannte haben im Januar eine Asylunterkunft unter Wasser gesetzt. Die „Masseneinwanderung“ könne nur mit Druck von unten beendet werden, hatte André Poggenburg im Wahlkampf gepredigt. Haben die Bismarker dem Bürgermeister erzählt, warum sie AfD gewählt haben? „Nein, nichts.“ Stapel klingt irritiert. „Sie sagen nichts.“ Und seine Vermutung? „Vermutungen haben wir genug“, entgegnet Stapel. „Ich kenne keine Untersuchung, wer wie warum AfD gewählt hat.“

Bei fast 30 Prozent AfD müssten ihm seine Bürger doch das Haus einrennen, die „Systemparteien“ anklagen. Nichts. Die Leute schweigen, lassen ihren Bürgermeister rätseln. Ganz so, als ob hier zwei Welten nebeneinander existierten. Neu ist das für Stapel nicht, das Schweigen, das Desinteresse. An Schulen und Hochschulen hat er landauf, landab referiert, erzählt er. Über Homosexualität, über seine eigene Geschichte. Überall, nur nicht in Bismark. „Die wollen den Schwulenkram nicht wissen.“ Er winkt ab. „Hier doch nicht!“

Vorsichtig steigt Stapel wieder die Treppe hinunter. Draußen vor der Feldsteinkirche setzt er die Sonnenbrille auf und steckt die Hände in die Jacke. Jetzt wirkt er wieder zerbrechlich. Die Straße ist menschenleer. Da radelt eine Frau vorbei. Sie blickt auf ihren Bürgermeister, grüßt ihn, rollt vorbei und kann den Blick nicht vom ihm lassen – als wäre sie besorgt. Oder stolz.

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