Das Medienhaus an der Rudi-Dutschke-Straße | lernt Türkisch und erinnert sich an den 26. April 1986

Ambivalent Wie keine andere Zeitung profitierte die taz vom Super-GAU. Doch warum?
: Mit dem Geigerzähler in die Redaktion

Der „Spiegel“-­Redakteur hat uns ausgemessen, ob wir noch sauber tickten

Die lauen Frühlingstage Anfang Mai 1986 werden für die Gründergeneration der taz auf ewig ihre Ambivalenz behalten: Reaktor- und Aboexplosion, Katastrophe und Aufschwung. Die taz erlebte ihre größte Bewährungsprobe und war für viele im Land plötzlich die wichtigste und glaubwürdigste Zeitung. Manfred Kriener hat fünf Stimmen zur „tazsächlichen“ Lage nach der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 zusammengetragen.

Der Regenschirm

Die ersten Warnungen kamen von schwedischen Wissenschaftlern, die eine erhöhte Radioaktivität gemessen hatten. Wir haben natürlich versucht rauszukriegen, was da los war. Aber ohne Internet war das, als würde man in Nordkorea recherchieren. Ich erinnere mich an die seltsamen Richtungswechsel der radioaktiven Wolke. Sie zog über Osteuropa, streifte einen Zipfel von Österreich, und irgendwann überquerten ihre Ausläufer Berlin. Das Wetter war sonnig, und ich lag mit meiner schwangeren Frau an der Havel.

Das Wetter blieb wunderbar, bis der erste Regen fiel. Wir wussten, dass jetzt die Radioaktivität ausgewaschen wird. Wir saßen in der Nachrichtenredaktion, als Reiseredakteurin Edith reinspazierte und ihren nassen Regenschirm auf den Tisch knallte. Alle haben aufgeschrien, ob sie jetzt komplett verrückt geworden sei. Zur selben Zeit lief Spiegel-Redakteur Hans Halter, der uns regelmäßig besuchte, mit seinem Geigerzähler grinsend durch die Redaktionsflure. Er hat uns ausgemessen, ob wir noch sauber tickten. Zaggi Zügel

1979–1991 taz-Redakteur und damals Nachrichtenchef

Die Abokurve

Am 26. April kam es zur Explosion, fünf Tage später, am 1. Mai, stand ich vor dem Reichstag auf der DGB-Kundgebung. Die Sonne glühte und wir waren guter Dinge, dachten nicht daran, dass Radioaktivität herunterkommen könnte. Ich hatte keinerlei Angst, nicht mal ein mulmiges Gefühl. Das kam erst viel später. In der taz schoben wir unmittelbar vor Tschernobyl die erste große und für unseren Abobestand erfolgreiche Blattreform an. Die Statistik zeigt, dass die Abos schon vor der Katastrophe dramatisch gestiegen waren aufgrund der taz-Reform.

Dann passierte Tschernobyl und – die frisch gewonnenen LeserInnen blieben uns allesamt treu. Der Kioskverkauf ging zusätzlich steil nach oben, der hatte damals noch eine ganz andere Bedeutung. Nach Tschernobyl ging es munter so weiter. Die Abos kletterten von 21.000 im November 1985 auf fast 37.000 zur Jahresmitte 1987 – ein gewaltiger Sprung. Kalle Ruch

Seit 1979 taz-Geschäftsführer

Eine Motivationsspritze

Unsere Ökoleute hatten recht behalten, die allerschlimmsten Befürchtungen hatten sich mit dem GAU bestätigt. Es klingt vielleicht zynisch, aber Tschernobyl kam für die taz genau zum richtigen Zeitpunkt. Das bittere Element dabei war natürlich die Katastrophe. Aber für die Zeitung war es vor allem eine ungeheure Bewährungsprobe, zumal die offiziellen Stellen die Gefahr in üblicher Weise herunterspielten. Damit wuchsen die Glaubwürdigkeit der taz, aber auch ihre Herausforderungen. Wir haben wieder gespürt, warum wir diese Zeitung 1979 gründeten, jetzt kam es wirklich auf uns an. Tschernobyl war eine enorme Motivationsspritze.

Ein wenig trieben uns auch unsere eigenen Ängste, denn niemand wusste, wie groß die Risiken für uns persönlich waren. Welche Kontamination verursachte die Wolke und was bedeutete dies für uns? Der Wermutstropfen kam für uns dann mit dem Verlust einer unserer besten Leute: Harald Schumann, der die langen Erklärstücke schrieb, wurde vom Spiegel abgeworben. Thomas Hartmann

1984–1987 „freigestellter Redakteur“ der taz

Kein Tanzkurs

Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar, dass eine solche Katastrophe passiert und die Weltöffentlichkeit fünf Tage lang im Dunkeln bleibt. So war es aber. Einer meiner ersten bitterbösen Kommentare galt deshalb den Geheimdiensten. Es konnte nicht sein, dass ein Reaktor explodiert, und die Dienste kriegen das nicht mit. Ich bin auch heute noch überzeugt: Sie wussten es.

Am Montag, den 5. Mai, eine Woche nach dem Unglück, begann die eigentliche Katastrophenberichterstattung. Drei Wochen lang gab es nichts anderes mehr. Ich bin mit Tschernobyl ins Bett gegangen und mit Tschernobyl aufgestanden. Meinen Tanzkurs habe ich abgesagt, die Wochenenden gestrichen. Meine wichtigsten Informationsquellen waren Greennet, ein Netzwerk von Umweltgruppen, und die Öko-Institute, mit denen die taz damals eine Art operative Einheit bildete. Öko-Institut, IFEU Heidelberg, Umweltinstitut München, Lutz Mez von der FU Berlin.

Die wichtigste Frage war: Was ist überhaupt passiert? Die beiden anderen zentralen Punkte: Wie bewältigt die Sowjetunion die Katastrophe? Und wie gefährlich ist die Lage vor Ort, für Europa, für uns? Die taz ist auf einer Glaubwürdigkeitswelle geschwommen, die mit jeder neuen Beschwichtigung durch die offiziellen Stellen noch zunahm. Atomlobby und Politik hatten Angst, Tschernobyl könnte auf die deutsche Atomdebatte durchschlagen, also musste die Katastrophe kleingeredet werden.

„Vor der Entwarnung wird gewarnt“, hieß dagegen die Überschrift der taz. Wir waren die einzige Zeitung, die nach Rücksprache mit den FU-Meteorologen davor warnte, am 1. Mai die Kinder rauszulassen. Die Wolke war im Anmarsch. Und wir haben kleine Volkshochschulkurse gemacht: Was ist Rem, Sievert, Curie, Becquerel, wie misst man Radioaktivität, wie sind die Grenzwerte usw. Das war wichtig. Als Atomgegner hatten wir uns jahrelang mit einer möglichen Katastrophe befasst, das war unser Vorsprung.

Harald Schumann

1986–1988 Öko-Redakteur der taz

Auf der Reeperbahn

Ich flanierte mit dem Hamburger Fotografen Günter Zint über die Reeperbahn, als wir von der entsetzlichen Nachricht über Tschernobyl hörten. Ich war von der taz kurzzeitig zur GAL als Pressesprecherin nach Hamburg gewechselt. Jetzt rannten uns die Mütter die Türe ein, das Telefon klingelte pausenlos. Was können wir noch essen? Sollen wir unsere Kinder einsperren oder draußen lassen? In Hamburg verliefen die Diskussionen besonders heftig, denn wir hatten ja das AKW Brokdorf vor der Haustür.

Tschernobyl war eine bittere Bestätigung der jahrelangen Berichterstattung. Aber jetzt ging es nicht um Rechthaberei. Jetzt ging es um Strahlenwerte. Bei der GAL sammelten wir die Becquerelwerte von Lebensmitteln, um die aufgescheuchten Mütter zu informieren. Die taz war in dieser Zeit unsere wichtigste Informationsquelle. Sie war die einzige Zeitung, die ständig die Strahlenwerte brachte und die auch als erste versuchte, den Unfall zu rekonstruieren. Durch Tschernobyl habe ich persönlich gemerkt, dass ich eigentlich viel lieber Autorin bin als Pressesprecherin. Ute Scheub

taz-Mitgründerin, war 1986 GAL-Pressesprecherin