Dänisches Trauma Viktoria

Blick von außen Unsere dänische Gastautorin Henriette Harris hat aus mehreren Gründen ein recht ambivalentes Verhältnis zur Siegessäule. Jetzt hat sie sich einen Ruck gegeben und der Viktoria endlich mal unter den Rock geguckt

Muss man schon denkmalhaft im Zusammenhang sehen: Bismarck und die Siegessäule Foto: vario images

von Henriette Harris

Wenn man hin und wieder ältere rucksacktragende Dänen mit einem Kompass vor der Siegessäule stehen sieht, die verwirrt und kopfschüttelnd nach oben schauen, dann bin ich daran schuld.

Vor einigen Jahren habe ich einen Vortrag in Dänemark gehalten. Es ging um Berlin, es war in einer Bibliothek, und vor mir hatte ich ungefähr 70 Leute. Ich hatte Fotos und auch einen Zeitungsartikel von einer Berliner Zeitung dabei. In dem Artikel wurde erzählt, dass man gerade die Viktoria restaurieren wolle. Und wenn Viktoria, die – was ihre Reize angeht, nun ja keine Nike von Samothrake ist – neu vergoldet wieder nach ganz oben zurückflattern würde, dann würde sie nicht mehr in Richtung Westen schauen, sondern in Richtung Osten. Um irgendwie den neuen Bundesländern gerecht zu werden. Oder so was. Ich habe es verdrängt. Weil ich die Zuhörer ermahnt habe: Wenn nächstes Mal in Berlin, dann bitte hoch zur Goldelse gucken. Sie wird bestimmt nach Osten schauen.

Einige Tage danach wollte ich meine Papiere vom Vortrag in Ordnung bringen und habe zufällig aufs Datum der Zeitung gesehen. Natürlich: 1. April.

Wegen dieser Geschichte habe ich ein angestrengtes Verhältnis zur Siegessäule und habe mich von ihr immer ferngehalten. Ich bin nur mit dem Auto und Sonnenbrille vorbeigefahren.

Aber dann habe ich überlegt. Mein Trauma mit der Siegessäule ist nichts im Vergleich zum Trauma, das die Dänen im Allgemeinen mit der Siegessäule haben. Oder mit dem, was der Anlass ihrer Erbauung war. Nämlich der Krieg 1864. Preußen gegen Dänemark, wo die Dänen tüchtig verprügelt wurden und halb Dänemark verloren ging. Besonders die, die aus Sønderjylland kommen, sollen traumatisiert sein.

Sønderjylland wird von den Deutschen Nordschleswig genannt. So wie sie auch darauf insistieren, Alto Adige Südtirol zu nennen.

Der Preuße Bismarck und das Deutsche Reich

Der junge Historiker Christoph Nübel, der an der Humboldt Universität lehrt und forscht, hat seine Schwerpunkte bei den Kriegen im 19. und 20. Jahrhundert und in der Erinnerungskultur durch Denkmäler. Ich frage ihn, ob er Lust hat, mit mir die Siegessäule zu betrachten und sich mit mir über Bismarck zu unterhalten. Otto von Bismarck war preußischer Ministerpräsident, und der Krieg gegen Dänemark war der erste von drei Siegen, die für ihn den Weg zum ersten Reichskanzler im Deutschen Reich frei gemacht haben.

Christoph Nübel findet die Idee nett, und wir verabreden uns bei der Siegessäule an einem grauen und noch kalten Nachmittag kurz vor Ostern. Ich dachte, wir würden die einzigen sein, aber überhaupt nicht. Italiener, Türken und Amerikaner, viele junge Leute, machen Selfies vor der Säule und wollen hoch.

Von der Siegessäule auf dem Großen Stern mit der goldigen Viktoria obenauf hat man einen hübschen Panoramablick über den Tiergarten und Umgebung – und darf sich auch daran erinnern, dass am Fuße der an alte Schlachten und Kriege erinnernden Säule lange Jahre die Abschlusspartys der Love Parade gefeiert wurden.

Der Aufstieg zur Aussichtsplattform ist nicht behindertengerecht und für Menschen mit schwacher Konstitution weniger geeignet. Geöffnet ist montags bis freitags von 9.30 bis 18.30 Uhr, am Wochenende bis 19 Uhr. Eintritt 3, ermäßigt 2,50 Euro.

Für die Verabredung habe ich mich gut vorbereitet und das Buch vom dänischen Historiker Tom Buk-Swienty gelesen. Es heißt „Schlachtbank Düppel. 18. April 1864. Die Geschichte einer Schlacht“. Das Buch war eine Sensation, als es 2008 in Dänemark erschien. Erstens, weil es so gut erzählt ist, dass man die 400 Seiten schluckt, als wären sie ein skandinavischer Kriminalroman. Und das einigermaßen wohl auch sind. Und zweitens, weil die bis daher mehr oder weniger offizielle dänische Version der Geschichte war, dass diesen Krieg der böse Bismarck gewollt hätte und die verrückt überlegene preußische Armee die armen Dänen überfallen und ihnen Sønderjylland wegamputiert hätte. Nur weil sie das konnte.

Buk-Swienty erzählt eine andere Geschichte. Nämlich die von einem inkompetenten, kriegslustigen dänischen Staatsminister. Von einem undemokratisch gesinnten König, der sich zum falschen Zeitpunkt eingemischt und sich zur falschen Zeit zurückgehalten hat. Und von dänischen undiplomatischen Gesandten, die bei der Friedenskonferenz in London nicht ihren Moment erkannt und nicht zugeschlagen haben, als die Briten den Dänen den größten Teil von Schleswig anbieten.

Christoph Nübel, der schon bei der Säule wartet, kennt die Geschichte natürlich viel besser als ich. Er sieht erleichtert aus, als ich anfangs sage, dass die Dummheit der Dänen eine Apfelsine im Turban von Bismarck gewesen sein muss. Anscheinend existiert die Redewendung gar nicht auf Deutsch, aber er versteht sofort, was gemeint ist, und bejaht.

Wir schauen uns die vier bronzenen Reliefs am Sockel der Siegessäule an. Nübel erzählt, dass es ein Relief für jeden gewonnenen Krieg Preußens gibt. Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg war das der Krieg gegen Österreich 1866 und dann der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Dazu gibt es ein Relief für den siegreichen Einzug der Truppen in Berlin im Jahr 1871.

Teile der Reliefs fehlten der Siegessäule lange, weil die Franzosen sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit nach Hause genommen haben. Die Franzosen wollten auch als einzige der Alliierten nach 1945 die Säule in die Luft sprengen. Erst als man in den 1980er Jahren allmählich anfing, die Wunden der zwei Weltkriege emotional zu bearbeiten, schickte der damalige Staatspräsident Mitterrand die Reliefs fast komplett 1987 zur 750-Jahr-Feier Berlins zurück. Hier und da sieht man Einschusslöcher.

Also eine Art Metadenkmal? „Ja, das kann man sagen, weil die fehlenden Teile der Reliefs und die Einschusslöcher von den harten Kämpfen um Berlin zeugen. Da ging der kleindeutsche Nationalstaat, den Bismarck begründete, ja unter, und bis 1990 war nicht klar, ob es wieder jemals so etwas Ähnliches geben würde“, erklärt Nübel. Er macht mich auf den Flechtkorb auf einem Relief aufmerksam. „Da weiß man sofort, dass wir in den Schanzen von Düppel sind“, sagt er und erzählt, dass die Siegessäule zuerst als Denkmal für den Deutsch-Dänischen Krieg geplant war. „Es war gedacht als ein monarchisches Denkmal, aber nach den drei Siegen und der Gründung des Reiches wurde es als nationales Denkmal am Königsplatz vor dem Reichstag am 2. September 1873 eingeweiht. Der Tag war der Sedantag, an dem an den Sieg über Frankreich erinnert wurde“, erzählt Nübel.

Traumabearbeitung mit einem prima Ausblick

Wir gehen die Säule hoch. Eine dänische Familie fotografiert sich gegenseitig. Traumabearbeitung? Auf dem Balkon ist es voll, man kann Goldelse unter die Röcke schauen und ganz weit sehen. Wir lehnen uns ans Gitter, wo ein lilafarbenes Vorhängeschloss mit eingraviertem „Andreas & Irene 2016“ angehängt ist. Nübel sagt: „Bismarck wollte Preußens Macht erweitern, seine Politik zielte nicht unbedingt darauf, ein Kaiserreich zu schaffen. Er war Großpreuße und im Grunde kein deutscher Nationalist. Stattdessen hat er sich als ‚Diener des preußischen Staates‘ bezeichnet.“

Die Franzosen wollten als einzige der Alliierten nach 1945 die Säule in die Luft sprengen

Unten verläuft die Straße des 17. Juni. Nübel erklärt, wie die Straße Teil von Hitlers und Albert Speers Großprojekt Germania mit der Umgestaltung Berlins war. Am Reichstag sollten eine riesenhafte Halle und ein Führerpalast errichtet werden. „Die Siegessäule stand dem im Wege. 1938 hat man sie verlegt und an Hitlers Geburtstag am 20. April 1939 ist sie hier am Großen Stern eingeweiht worden. Da hat man sie auch mit einem weiteren Ring und den Treppenstufen unten erhöht. Das Bismarck-Denkmal ist gleichzeitig auch versetzt worden. So zeigte Hitler, dass sein Reich größer als Bismarcks war“, erzählt er und erwähnt, dass viele der Lampen entlang der Straße von Speer gestaltet sind. „Bismarck kann man heute viel cooler sehen. Er ist eine Gestalt des 19. Jahrhunderts und als solche heute weitaus weniger bedeutend als noch vor 50 Jahren. Deshalb braucht man ihn nicht mehr zu verteufeln oder zum Vorbild zu machen. Aber er bleibt eine interessante Figur, wegen seiner Fehler und seines politischen Stils. Er betrachtete Politik als ‚die Kunst des Möglichen‘, was zum festen Begriff geworden ist“, sagt Nübel.

Wieder unten verabschieden wir uns und ich gehe durch den Tunnel zum Tiergarten, wo das Bismarck-Denkmal steht. Moltke und Roon, Bismarcks Feldmarschall und sein Kriegsminister, stehen ihm zur Seite. In einer Stadt, die sonst nur Denkmäler von den eigenen Niederlagen und in Erinnerung beschämender Taten errichtet, sind sie stehen geblieben.

Irgendwas hat Bismarck wohl richtig gemacht. Nach dem Krieg 1864 hat er zum Beispiel abgelehnt, Dänemark in den Deutschen Bund aufzunehmen, obwohl der dänische König und die Regierung darum fast gebettelt haben. Ganz Dänemark wollte er zum Glück nicht. Dann wären die Dänen Teil des noch größeren Übels des 20. Jahrhunderts geworden.

Bismarck kann man heute ruhig viel cooler sehen. Auch als Dänin.

Die Autorin lebt als Journalistin in Berlin und schreibt für dänische Medien. Sie hat ein Buch über Berlin (auf Dänisch) geschrieben, aber die Stadt ist für sie noch längst nicht auserzählt. In ihrer Serie „Blick von außen“ schaut sie sich in loser Folge in Berlin um.