Debatte SPD und Kapitalismuskrise: Kapital und Krankenbett

Ihr fehlt ein Schuss Utopie und Mut zur Gegenmacht. Wie kann die intellektuell und personell ausgetrocknete SPD wiederbelebt werden?

Füße schauen aus einem Krankenhausbett hervor

Es wächst die Zahl der Ärzte am Krankenbett der SPD Foto: Francesca Schellhaas / photocase.de

Sozialdemokraten sind „Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus“ – so formulierte es inmitten der Weltwirtschaftskrise Fritz Tarnow auf dem SPD-Parteitag von 1931. Allerdings ging Tarnow, ein gemäßigter Theoretiker der „Wirtschaftsdemokratie“, davon aus, dass der Patient bald ableben würde. „Selbst wenn wir nicht überzeugt sind, dass die Medizin den Patienten heilt, sondern nur sein Röcheln lindert, […] geben wir sie ihm, und denken im Augenblick nicht so sehr daran, dass wir doch Erben sind und sein baldiges Ende erwarten.“

Nun, nach Diktatur, Kapitalvernichtung und Weltkrieg lebte der totgesagte Patient strahlender als je zuvor auf, und die Zusammenbruchstheorien verstaubten. Sozialdemokraten setzten nun auf die Variante: „Wenn die Pferde fressen, haben auch die Spatzen etwas davon“ – ein paar Jahrzehnte lang mit einigem Erfolg.

Bis zur Finanzkrise 2008. Da sprach Nicolas Sarkozy in Davos den Satz: „Wir erleben nicht eine Krise im Kapitalismus, sondern eine Krise des Kapitalismus.“ Deshalb müsse alles anders werden. Auch unsere Kanzlerin sprach damals so. Aber alles blieb wie bisher, und nur allmählich schleicht sich das böse Wort von der „säkularen Stagnation“ in die Debatten der Ökonomen. Die kündigte sich seit Mitte der siebziger Jahre an, als Wachstum und Produktivität in den Stammländern des Kapitalismus abzunehmen und die Finanzspekulation zu blühen begann.

Mit dem diskreten Niedergang sank auch der Stern der Sozialdemokratie, und die letzte kräftige Ration für die kapitalistischen Pferde – Steuersenkungen und Sozialabbau unter der Regierung Schröder – hat ihren Abstieg noch beschleunigt: 300.000 Mitglieder weniger, Wählerschwund und die tödliche Allianz mit einer sozialliberal gewendeten CDU, mit der die Parteieliten die illusorische Hoffnung auf ein neues, kräftiges Wachstum teilen.

Rot-Rot-Grün ist keine Option

Seit einigen Wochen kommt die 20-Prozent-Marke in Sicht. Es wächst die Zahl der Ärzte am Krankenbett der SPD. „Die Linke muss wieder kämpfen“, fordern, fast schon verzweifelt, der Philosoph Rainer Frost und der Journalist Bernd Ulrich in der Zeit. Wer, wenn nicht die Sozialdemokratie, könne den Nationalstaat überwinden und „transnationale Handlungsperspektiven“ für Migration und globale Gerechtigkeit entwickeln. „Solidarität oder Barbarei“, spitzen sie zu. Es klingt nach einem letzten Stoßgebet.

Die SPD müsse zum Champion einer ökologischen Weltwirtschaft werden, ein Grundeinkommen durchsetzen, öffentliche Unternehmen und Genossenschaften fördern, so das Rezept des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie. Aber sein Befund – „die Sozialdemokratie muss um ihre Regierungsfähigkeit fürchten“ – ist leider von gestern. Rot-Rot-Grün, also die Wiedervereinigung der drei linken Parteien, ist inzwischen auch rein rechnerisch keine Option mehr.

Es stimmt ja: Nur eine vereinigte, ökosoziale, vor allem aber – national wie europaweit – regierende Linke könnte Finanzbomben entschärfen, den Niedergang der Städte, die Bedrohung des Mittelstands, die Misere der Bildungsinstitutionen, die Erosion des Arbeitsmarkts und die grassierende Zukunftsangst wenden.

Aber dafür müsste sie, genauso wie die Grünen, den Glauben an die Wiederkehr des Wachstums – die ideologische Kehrseite der alten Zusammenbruchshoffnung – aufgeben. Sie müsste die Radikalisierung von rechts als Symptom ihrer Schwäche begreifen und Visionen einer gerechten und zukunftsfähigen Gesellschaft ohne Wachstum entwickeln. Das hieße auch: über Konsumeinbußen und unangenehme Eingriffe in Lebensgewohnheiten und Besitzstände reden, und zwar nicht nur bei den einem Prozent der Superreichen. Auch für die Normalbürger gilt: Fördern und Fordern.

Muss, müsste, könnte. Schon gut: Es ist müßig, das von einer intellektuell wie personell ausgetrockneten SPD zu erwarten. Denn ihr Vorsitzender fremdelt, wenn der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) die wachsende Ungleichheit geißelt und deren Vertreter nicht auftauchen, wenn der ehemalige griechische Finanzminister Gianis Varoufakis Tausende junger Menschen mit der Idee eines sozialistischen Europa begeistert; die den analytischen Schulterschluss mit Sarah Wagenknecht dem linkskonservativen Peter Gauweiler überlässt.

Konsequenterweise verschreibt der vorerst letzte Arzt am Krankenlager, Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, eine regenerierende Kur in der Opposition als letzte Chance für die Wiederbelebung.

Ein Schuss Utopie gesucht

Was dabei geschehen könnte, das deutet sich, vorerst als zartes Pflänzchen, in England an: die Eroberung einer erstarrten Sozialdemokratie durch die Basis. Der Theoretiker und Aktivist Paul Mason skizziert in seinem inspirierenden Buch „Postkapitalismus“ die Wiedervereinigung einer erneuerten Sozialdemokratie mit den sozialen Bewegungen, von denen viele der Politik – und, schlimmer noch: dem Staat – nichts mehr zutrauen. Sie setzen deshalb auf Exitstrategien, romantische Fluchtbewegungen, hilflose Petitionen und Selbsthilfe im Kleinen. Ihre intellektuellen Wortführer propagieren die Überwindung der Konsumkultur durch individuelle Lebensreform oder bleiben in Kulturkritik stecken.

Eine wirkliche Gegenmacht gegen die totale „Landnahme“ eines digital aufgerüsteten, autoritären Turbofeudalismus aber kann nur über eine Instandbesetzung der politischen Institutionen entstehen. Dazu braucht es, so Mason, einen Schuss Utopie und das Narrativ eines „guten Staates“, der intelligente Investitionspolitik betreibt, die Sozialsysteme durch Steuern finanziert, Genossenschaften fördert, die Infrastrukturen entprivatisiert, den Finanzsektor und die Monopole der Informationswirtschaft vergesellschaftet.

Kurzum: die technischen und menschlichen Produktivkräfte freisetzt, die von einem Amok laufenden Kapitalismus gefesselt werden. In den siebziger Jahren hieß das „systemüberwindende Reformen“. Vor hundert Jahren nannten es Sozialdemokraten: „Zukunftsstaat“. Und am Montag verriet SPD-Chef Sigmar Gabriel einer Putzfrau: „Wir sind eine staatstragende Partei.“ Nur zu.

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