Historischer Zwergstaat

Vor 200 Jahren wurde Neutral-Moresnet gegründet. „Das wohl ­bekloppteste politische Gebilde, das es je gab“, sagt ein Forscher

Die Gruben von Neutral-Moresnet lieferten das Zink für die Dächer von Paris Foto: Science Museum/ullstein bild

Possenstaat am Rande der Anarchie

Aus dem Streit der Könige von Preußen und der Niederlande entstand 1816 Neutral-Moresnet. Als Provisorium gedacht, existierte die Hüttensiedlung als weitgehend eigenständiger Staat voller Kuriosa ganze 103 Jahre – länger als die ruhmreiche Sowjetunion

Aus Kelmis Bernd Müllender

Die Straße im niederländischen Grenzort Vaals bei Aachen führt ziemlich steil nach oben, im ansonsten so pannekoekenflachen Land. Es geht sogar über zwei Serpentinen auf annähernd alpine 322,5 Meter, höher geht es in den Niederlanden nirgends. Und noch verwunderlicher: Die Straße hinauf zum „Drielandenpunt“, dem Dreiländer­eck Deutschland-Niederlande-Belgien, heißt Viergrenzenweg. Und tatsächlich existierte hier über ein Jahrhundert lang ein Kuriosum, das das Dreiländer- zum Vierländereck machte: Von 1816 bis 1919 gab es den stolzen Zwergstaat Neutral-Moresnet.

Im belgischen Kelmis, vier Kilometer entfernt, einst die Südgrenze dieses seltsamen Staatengebildes, erfährt man in einer versteckten Gründerzeitvilla mehr. Das ehemalige Herrenhaus eines Tuchfabrikanten beherbergt heute das örtliche Geschichts- und Industriemuseum. Hier weht, umrahmt von ein paar mächtigen Buchen, in diesen Tagen sogar die schwarz-weiß-blaue Flagge von Neutral-Moresnet. Am 26. Juni ist schließlich dessen 200. Geburts­tag.

Der Historiker Herbert Ruland, 63, Leiter der Abteilung Grenzgeschichte an der Hochschule Eupen, hat mit Hingabe eine Ausstellung zusammengestellt. Man sieht Bilder von dampfenden Schloten, wichtigen Zwirbelbärten von Zeitgenossen und 25 Texttafeln voller Witz. „Dieses Neutral-Moresnet“, ordnet Forscher Ruland direkt ein, „ist das wohl bekloppteste Gebilde, das es politisch auf der Welt je gegeben hat.“

Auf dem Wiener Kongress 1815 hatten sich Preußen und das Königreich der Niederlande nicht einigen können, wem die gewinnträchtigen Galmei-Hütten im Grenzgebiet zufallen sollten, die damals größten Europas. Mit dem seltenen Mineral Galmei – Zinkspat – und Kupfer konnte man preiswertes Messing herstellen. Man einigte sich auf ein Provisorium: das „Neutrale Gebiet Moresnet“, ganze 3,4 Quadratkilometer klein, erhielt vorläufig eine gemeinsame Verwaltung. „Aber wie das so ist mit Provisorien“, sagt Ruland, „oft dauern sie überraschend lang.“

Die Gruben waren ergiebig. Belgien entstand 1830 und wurde neuer Nachbarstaat. Und Neutral-Moresnet mit seinen anfangs 50 Häusern entwickelte sich zu einem kleinen Paradies: Es gab passable Arbeitsbedingungen, keine Einkommensteuer, keine Einfuhrzölle, zunehmend illegale Schnapsbrennereien, florierenden Schmuggel, versteckte Zockerstuben, Prostitution und lange – keine Wehrpflicht. Die Grenzen waren wie mit dem Lineal querfeldein gezogen, teils durchschnitten sie Grundstücke oder sogar Häuser. Dazu kam eine vielseitig interpretierbare Gesetzeslage zwischen allen Ordnungen. Alle hatten Vorteile. Es gab genau einen Zöllner, ein Possenstaat nahe der Anarchie.

Aus anfangs 240 Einwohnern wurden fast 5.000. Manche sagten statt Moresnet auch Altenberg oder auf Französisch Vieille Montagne. Gesprochen wurde Kelmiser Platt, Hochdeutsch, Französisch und Niederländisch. „Es lag am Kreuzungspunkte der Völker, romanische und germanische Kultur trafen aufeinander“, sagt Herbert Ruland, „ein völkerverbrüderndes Projekt“.

Allerdings mussten die Arbeiter in den Hütten spuren: Gewerkschaften waren verboten, der Pastor, von den Hüttenbesitzern bezahlt, predigte Gehorsam und rief zu Denunziation auf. Ruland zeigt in der Ausstellung auf Bilder vom Seine-Ufer: „Halb Paris, die ganzen alten Dächer“, sagt er, „sind alle bis heute verzinkt mit Material aus Neutral-Moresnet.“ Besonders gefällt ihm das Emailleschild „Bürgermeisterei Moresnet“ – es zeigt den preußischen Adler und den belgischen Löwen. „Das gab es sonst nirgends“ – zwei Staatssymbole in einem vermengt.

Ruland und die Leiterin des Museums, Sylvia Fabeck, laden ein zur Rundfahrt, vorbei am letzten existenten alten Grenzstein am Straßenrand. Daneben noch das alte prachtvolle Direktionsgebäude der Hüttenverwaltung, heute wenig charmant eingerahmt von Aldi, Bushof und Möbellager. Die alte Volksschule Moresnets ist heute die Gemeindeverwaltung. Der große Weiher im Ort ist eine vollgelaufene alte Grube. An einem Denkmal studiert Ruland die Namen der Weltkriegsgefallenen. „Interessant“, sagt er, früher habe da gestanden „zu Ehren der deutschen Söhne“. Jetzt nur noch Söhne. Man müsse mal nachforschen, ob das umgewidmet wurde oder ob „jetzt auch Neutrale dazugeschrieben wurden“. – „Geht ja nicht“, sagt Fabeck, wegen der fehlenden Wehrpflicht. „Doch, doch, Freiwillige“, weiß Historiker Ruland. „Manche waren so bekloppt.“

Links ab in einen alten Feldweg. Unten, erklärt Fabeck, waren kilometerweit Gleise verlegt für Lorenbahnen zum Stollen Schmalgraf. Erhalten sind unterirdisch nur noch Ruinen, vergitterte Tunneleingänge. Man würde gern restaurieren. Aber, sagt Fabeck: das Geld. Auf den Wiesen blühen abertausende Galmeiveilchen. Die gibt es nur hier – eine Pflanze als Metalldetektor.

Und auch einen berühmten Sohn gibt es: Emil Dovifat, Begründer der Publizistikwissenschaft in Westdeutschland, kam hier 1890 zur Welt. Auf dem Kelmiser Friedhof ist das Grab des „Geheimen Sanitätsrates Dr. W. Molly. 58 Jahre im treuen Dienst am Nächsten.“ Molly war Chefarzt der Erzgruben, sagt Ruland, „eine sehr wichtigen Figur“, als die Galmei-Ausbeute Ende des 19. Jahrhunderts nachließ. „Das neutrale Gebiet mit seinen zahlreichen Gesetzeslücken bot gewieften Menschen zahlreiche Betätigungsfelder.“

So wie Molly. Der wurde zunächst stellvertretender Bürgermeister in Preußisch-Moresnet nebenan. Dann ließ er Briefmarken drucken, gezähnt, geschnitten, gestempelt – sie werden bis heute auf Philatelisten-Auktionen hoch gehandelt. Dann initiierte er ein Spielcasino. Aus Paris, London, Petersburg kamen reiche Gäste angebraust: „Die große Straße zwischen Aachen und Verviers bedeckte sich mit Automobilen“, lesen wir in der Ausstellung aus einem Zeitungsbericht über das zeitweilige „Neu-Monte Carlo“.

Ab 1907 kam Molly in Kontakt mit Esperanto-Anhängern. Sie wollten aus dem völkerrechtlichen Unikum Neutral-Moresnet gleich den Welt-Esperantostaat machen. Molly half. Geplanter Name: Amikejo, „Ort der Freunde“. 1908 verlegte der Weltbund der Esperantisten seinen Hauptsitz von Genf nach Moresnet. Es gibt Kongresse, Kneipiers schildern mehrsprachig aus. Der Einmarsch der deutschen Truppen 1914 zerstört die Idee. Und mit dem Vertrag von Versailles endete der Kapriolenstaat Neutral-Moresnet. Nach 103 Jahren und zwei Tagen fiel das Kuriosum am 28. Juni 1919 Belgien zu. Der 4. Grenzstein auf dem Vaalser Berg wurde weggeräumt. Das letzte Vierländereck Europas war Geschichte.

Was aber, wenn es das Neutralgebiet weiterhin gäbe? Im Museum präsentiert Ruland seine letzte Schautafel, eine grellbunte Zeichnung von Wolkenkratzern und Banktürmen. Das Gebiet, glaubt er, wäre heute „nahezu bis auf den letzten Quadratmeter zugebaut“ und bräuchte als Steueroase „keinen Vergleich mit den Cayman-Inseln zu scheuen“. Das dichtbesiedeltste Gebiet Europas als Magnet für die Internationale der Steuerhinterzieher. Neu-Neutral-Moresnet wäre „das weltweit einzige Land mit zwei Staatsoberhäuptern“ – gleichzeitig der belgische König und der Bundespräsident. Amtssprachen: Hochdeutsch, Französisch und Esperanto. Und Ruland hat noch eine Vision. Wenn sich Belgien eines Tages doch auflöst, wie 2010/11 diskutiert und sich die Deutschsprachige Gemeinschaft Luxemburg anschließt, dann? – „Ja, dann haben wir hier oben wieder ein Vierländereck.“