Der Mitschüler aus der Mülltonne

THEATER An der Hellersdorfer Mozart-Schule riefen Eltern im Januar in einem offenen Brief um Hilfe: Viele Schüler seien gewalttätig, die Lehrer überfordert. Nun haben FünftklässlerInnen die Gewalt in ihrem Klassenzimmer in einem Theaterstück verarbeitet

Proben im Bällebad: Gemeinsam mit 20 FünftklässlerInnen der Hellersdorfer Wolfgang-Amadeus-Mozart-Schule hat das Theater o. N. ein Stück über Gewalt entwickelt Foto: David Beecroft

von Daryna Sterina

Kin­der ren­nen in bun­ten T-Shirts über die Bühne, tip­pen ein­an­der an die Schul­ter: „Wer ist noch nicht ge­fan­gen?“ Alle Kin­der heben die Hände, bis auf einen Jun­gen. Sie ren­nen auf ihn zu und fra­gen: „Was ma­chen wir mit ihm?“ – „Wir ste­cken ihn in eine Müll­ton­ne!“ Die Müll­ton­ne be­steht in die­sem Fall aus einem Bäl­le­bad, wie man es von McDo­nald’s-Spiel­plät­zen kennt. An die­sem Abend auf der klei­nen Thea­ter­büh­ne in der Alten Börse in Mar­zahn war es keine rich­ti­ge Müll­ton­ne, in die ihn seine Mit­schü­le­rIn­nen steck­ten.

„Feuer!“ heißt das Thea­ter­stück, das be­reits am ver­gan­ge­nen Don­ners­tag Pre­mie­re hatte. Das Thea­ter o. N. hatte das Stück über Ge­walt unter Schü­le­rIn­nen ge­mein­sam mit 20 Fünft­kläss­le­rIn­nen der Hel­lers­dor­fer Wolf­gang-Ama­de­us-Mo­zart-Schu­le ent­wi­ckelt.

Die Schu­le hatte es im Ja­nu­ar zu un­rühm­li­cher Be­kannt­heit ge­bracht, als ein Brand­brief von Eltern durch die Me­di­en ging. Sie klag­ten über eine At­mo­sphä­re der Ge­walt an der Ge­mein­schafts­schu­le: Äl­te­re Kin­der träten und schubsten die klei­ne­ren. Ein­mal seien Schü­le­rIn­nen mit Spiel­zeug­pis­to­len in das Zim­mer der Er­zie­her ge­stürmt und forderten sie auf­, sich auf den Boden zu legen.

Ein Junge rastet aus

Auch Cindy Ehr­lich­mann, die das Thea­ter­pro­jekt als Re­gis­seu­rin be­treut hat, kann sol­che Ge­schich­ten er­zäh­len. Ehr­lich­mann hatte vor dem „Feuer!“-Pro­jekt be­reits ei­ni­ge Thea­terwork­shops in der Mo­zart-Grund­schu­le an­ge­bo­ten. Sie er­zählt von einem Jun­gen, der ein­mal kom­plett aus­ge­ras­tet sei, die Leh­re­rin an­ge­brüllt und ge­tre­ten habe. „Das emp­fand ich als eine star­ke Grenz­über­schrei­tung.“ Ehr­lich­mann hatte schon im Herbst letz­ten Jah­res diesen Grenz­ver­let­zun­gen nicht nur durch Work­shops be­geg­nen wol­len – vielmehr wollte sie sie offen auf der Bühne the­ma­ti­sie­ren. Of­fen­bar die rich­ti­ge Ent­schei­dung: Kurze Zeit spä­ter gin­gen die El­tern mit ihrem Brand­brief an die Öf­fent­lich­keit.

Also hat die Thea­ter­päd­ago­gin zu­nächst In­ter­views mit Schü­lern und Leh­rern der Mo­zart-Schu­le ge­führt: Wie sieht ein guter Schul­tag für euch aus, wie ein schlech­ter? Gut ist, sag­ten die Schü­le­rIn­nen, wenn wir uns ge­gen­sei­tig nicht är­gern. Der Tag, als ein Mit­schü­ler in der Müll­ton­ne lan­de­te, war ein schlech­ter.

Aus dem, was ihr die Schü­le­rIn­nen und Lehr­kräf­te er­zähl­ten, ist dann das Stück ent­stan­den. Im Ja­nu­ar, als die El­tern ihren Brief schrie­ben, be­gan­nen die Pro­ben: jeden Mon­tag, fünf Stun­den lang.

In­ter­es­sant sei ge­we­sen, sagt Ehr­lich­mann, dass die Kin­der sich be­son­ders für die Text­­passa­gen ihrer Leh­re­rIn­nen in­ter­es­siert hät­ten. „Dabei dach­te ich nicht, dass sie daran in­ter­es­siert sind, zu hören, wie er­schöpft und ge­nervt die sind“, sagt sie.

Zwei weitere Aufführungen am Freitag, den 8. Juli, um 10 Uhr und um 19 Uhr. Theater o. N., Kollwitzstraße 53, Prenzlauer Berg. Karten für 7 Euro, ermäßigt 5 Euro. (ds)

Im Stück wird diese Er­schöp­fung sehr ein­drück­lich ge­macht. In einer Szene liegt eine Leh­re­rin in einem Bäl­le­bad und er­zählt, wie sie zu Hause ihren Kühl­schrank leer isst. Dabei stopft sie sich die roten Plas­tik­bäl­le unter ihren Pull­over, bis sie ganz auf­ge­dun­sen aus­sieht. Ein Kol­le­ge sitzt der­weil neben ihr und er­zählt, wie er einmal nach einem Ar­beits­tag in den Wald fuhr, um Bäume an­zu­schrei­en.

Das ist doch alles „Schei­ße mit Reis“, fin­den Leh­re­rIn­nen und Kin­der und sin­gen dies zum Pu­bli­kum.

Einst beliebte Grundschule

Die Mo­zart-Schu­le, eine ehe­ma­li­ge Grund­schu­le, war 2008 eine der ers­ten Schu­len im Pi­lot­pro­jekt Ge­mein­schafts­schu­le des da­ma­li­gen rot-ro­ten Se­nats. Die Schu­le bekam eine Se­kun­dar­stu­fe, die Schü­ler­zahl ver­dop­pel­te sich bei­na­he von ehemals 400 auf dann knapp 800 SchülerInnen. Leis­tungs­star­ke Kinder ver­ab­schie­den sich zudem nach der sechs­ten Klas­se ans Gym­na­si­um, weil die Mo­zart-Schu­le keine ei­ge­ne Ober­stu­fe hat. Übrig blei­ben die leis­tungs­schwä­che­ren Kin­der. Die So­zi­al­struk­tur im Vier­tel Helle Mitte in Hel­lers­dorf ist schwie­rig. Bei etwa der Hälf­te der Kin­der über­nimmt das Job­cen­ter das Bü­cher­geld.

Die ehe­mals be­lieb­te, mu­sik­be­ton­te Grund­schu­le war offensichtlich über­for­dert, wie auch die Be­rich­te der Schul­in­spek­ti­on schil­dern. Im letz­ten Be­richt von 2013 ist von „un­so­zia­lem Ver­hal­ten bis hin zu Ge­walt­tä­tig­keit“ im Klassenraum die Rede. Die Schul­lei­tung, mahnen die Inspektoren an­, müsse „of­fen­si­ver“ han­deln.

Nach dem El­tern­brief setz­te die Bil­dungs­ver­wal­tung im März einen neuen Schul­lei­ter ein: Ger­hard Miebs, der zu­gleich Schul­lei­ter der Wal­ter-Gro­pi­us-Ge­mein­schafts­schu­le in Neu­kölln ist. „Ich habe diese Sze­nen aus dem Thea­ter­stück an­fangs auch er­lebt“, sagt Miebs nach der „Feuer!“-Premiere. In­zwi­schen laufe aber vie­les bes­ser an der Mo­zart-Schu­le. Es gebe jetzt zum Bei­spiel eine re­gel­mä­ßi­ge Pau­sen­auf­sicht und einen funk­tio­nie­ren­den Ver­tre­tungs­plan, so der Schulleiter. Ei­gent­lich Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten – die an der Mo­zart-Schu­le allerdings fehl­ten.

Kinder weniger schockiert

„Ich habe diese Szenen aus dem Theaterstück auch erlebt“

Schulleiter Gerhard Miebs

Vor allem aber habe sich die Grund­stim­mung im Kol­le­gi­um und auf dem Schul­hof ge­än­dert. „Wir ver­su­chen, einen freund­li­che­ren Um­gangs­ton zu fin­den“, sagt der Schul­lei­ter. „Es wäre na­tür­lich ge­lo­gen, wenn man sagt, es würde gar keine un­an­ge­neh­men Sze­nen mehr geben – aber die Ge­samt­stim­mung ist po­si­ti­ver ge­wor­den.“

Die Kin­der schei­nen die Er­eig­nis­se an ihrer Schu­le üb­ri­gens weit we­ni­ger dra­ma­tisch zu sehen als ihre El­tern. Die elf­jäh­ri­ge Lisa sagt nach der Auf­füh­rung, ein biss­chen hät­ten die El­tern schon recht, „aber auch nur ein biss­chen“. Und ihre Freun­din Jolie sagt achselzuckend, ei­gent­lich sei es „ja ganz nor­mal“, dass man „mal gute und mal schlech­te“ Schul­ta­ge habe.

Die Antwort auf den Brief

Und so ist das Theaterprojekt der FünftklässlerInnen vor allem auch eine Antwort auf den Brief der Eltern. Den Vätern und Müttern, die am Donnerstagabend zur Premiere im Publikum saßen, hat das Thea­ter­stück jedenfalls sehr zu­ge­sagt. Ein Vater war so be­geis­tert von den Schau­spiel­küns­ten sei­ner Toch­ter, dass es ihn vor be­geis­ter­tem Pfei­fen kaum auf sei­nem Stuhl hielt.