Buchland Schweiz: die berühmte Klosterbibliothek in St. Gallen Foto: Eddy Risch/dpa

Vielfalt der Sprachen

LiteraturExport Die Schweiz hat keinen Zugang zum Meer, sondern viele hohe Berge. Dass sie dennoch das Schwerpunktland des diesjährigen Literatursommers in Schleswig-Holstein ist, ist ein großes Glück – wegen der Autoren und Autorinnen

von Frank Keil

Was ein Text! Aber wie ihn lesen? Kein Fließtext, wie gewohnt Satz für Satz, sondern ein Text, Zeile für Zeile gesetzt wie ein Gedicht, doch vom Sprachfluss her irgendwie ein Prosatext. Und: keine Punkte, keine Kommata. Keine Ausrufezeichen. Und keine Fragezeichen, wenn eine Frage gestellt wird. Und wer erzählt überhaupt? Und was sind das für Worte? „Pflotschig“, oder „Scheiblein“, gar „Bauerundwaldschratrepetierbüchse“?

Aber Rhythmus hat der Text. Wenn man erst mal seine Lesegewohnheit zur Seite schiebt – und nicht länger darüber nachdenkt, was für eine Textart das ist, sondern einfach liest. Und das geht am besten, wenn man die so seltsam untereinander gestaffelten Worte und Halbsätze und Sätze laut liest und sei es, dass man seine Stimme im Kopf hört und nur die Lippen vorher dazu bewegt, damit die Geschichte sich entwickelt.

„Simeliberg“ heißt der Text, ein Krimi, aber auch der Bericht eines alten, müden Mannes, der nicht aufgeben will, und er stammt von Michael Fehr. Schweizer Autor, genauer: Deutsch-Schweizer Autor. Der bald in Kiel und in Neumünster und in Lauenburg zu erleben sein wird. „Für mich ist Michael Fehr der Tom Waits der Literatur“, sagt Sara Dušanić und lacht, weil natürlich solche Vergleiche immer ein bisschen hinken. Egal. Sie hat Michael Fehr eingeladen, denn in diesem Jahr ist Sara Dušanić zuständig für die Programmgestaltung des Literatursommers in Schleswig-Holstein. Und der wird diesmal die Schweiz in den Norden holen.

Michael Fehr also. Jahrgang 1982. „Die Schweiz ist dreckig“, sagt Michael Fehr. „Nichts ist hier sauber“, sagt Michael Fehr. Er wohnt in Bern, in einer karg eingerichteten Wohnung, hat dort ein karg eingerichtetes Arbeitszimmer, wo er seine Texte einspricht.

Denn Michael Fehr hat eine Augenkrankheit. Sehvermögen um die fünf Prozent. Also spricht er seine Texte in seinen Computer, der schickt die gesprochenen Worte über ein Headset in Michael Fehrs Ohren und dann überlegt er als Dichter, ob die Worte richtig sitzen oder ob sie nachgesprochen werden müssen, ob es die richtigen Worte am richtigen Platz sind, sozusagen.

Und so sind dann auch seine Lesungen, die ihm als Schriftsteller wichtig sind: Er liest nicht das vorher Geschriebene ab, wie es da steht, wie man es normalerweise macht, weil er das so nicht sieht, sondern er hört, was er gleich lesen will und unter Umständen steuert er im fast selben Moment des Hörens nach. Auch abhängig davon, wie das Publikum reagiert.

Michael Fehr kennt auch den Schriftsteller Arno Camenisch, beide sind gut miteinander befreundet. Und so kommt auch Arno Camenisch in den schleswig-holsteinischen Norden, mit dem es wiederum noch eine andere Bewandtnis hat: Camenisch ist ein rätoromanischer Autor, der ebenso auf Deutsch schreibt; der in beiden Sprachen daheim ist und nun also nicht aus dem Rätoromanischen ins Deutsche übersetzt und umgekehrt, sondern sich für die jeweils für ihn passende Sprache entscheidet.

Sehr lässig absolviert er seine Lesungen, wobei er gern erzählt, dass er bis zum 20. Lebensjahr kein Buch angefasst habe. In der Schweizer Literaturszene hat er den Ruf eines Popstars, weshalb man im Kieler Studio-Filmtheater mit „Schrei­ben auf der Kante“ vorab ein filmisches Porträt in Schwyzerdeutsch mit Untertiteln zeigt – gewissermaßen das Intro zu seiner Lesereise, die von Heide über Rendsburg bis nach Aabenraa führen wird. Im Gepäck sein Roman „Die Kur“, der von einem Paar erzählt, dass bei einem Urlaub in einem Fünf-Sterne-Hotel im Engadin mit seinen sehr unterschiedlichen Lebenshoffnungen konfrontiert wird.

Es ist die Sprachenvielfalt der Schweiz, die Sara Dušanić und ihr Team beflügelt haben, einen besonders intensiven Literatursommer auszurichten: das Deutsche, das Französische, das Italienische, das jeweils in Teilen des Landes gesprochen wird, wobei innerländische Mehrsprachigkeit weit verbreitet ist. Was schon eine gute Ironie hat: Wo gerade alles über das sich möglicherweise auflösende Europa redet, das neuen Nationalismen Raum bietet, zeigt uns das Nicht-EU-Land Schweiz, welch’kultureller Reichtum sich ansammelt, wenn man den verschiedenen Sprachgemeinschaften nur ihren Platz lässt. „Die Schweiz bietet nicht nur eine sehr vielfältige Landschaft, sondern ebenso eine beeindruckende Multikulturalität, aus dem man gut ein gutes Programm entwickeln kann“, lautet denn auch Sara Dušanić' pragmatisches Fazit.

Gern hätte sie das noch weiter vertieft – und auch das Alemannische mit seinen verschiedenen Mundarten dichterisch repräsentieren lassen, aber da gab es dann schlicht das Problem, dass die verschiedenen Kooperationspartner – oft Buchhandlungen und Bibliotheken – darauf angewiesen sind, dass für ihre Kundschaft übersetzte Bücher zur Verfügung stehen. Und das ist derzeit leider nicht der Fall.

Sehr lässig absolviert er seine Lesungen, wobei er gern erzählt, dass er bis zum 20. Lebensjahr kein Buch angefasst habe

Aber es gibt einen Weg, wenigstens ausschnitthaft die skizzierte Vielfalt vorzuführen, einen wortwörtlichen: den mehrsprachigen Lyrikparcours „Literaturlandkarten der Schweiz“ im alten Botanischen Garten, der sich hinter dem Kieler Literaturhaus erstreckt, das auch in diesem Sommer quasi die Homebase des Literatursommers ist.

Und auch die aktuelle Sprach-Entwicklung wird nicht fehlen, die quasi kulturellen Folgen, die die Einwanderung von Menschen aus Mittel- und Osteuropa mit sich bringt. Womit wir bei Dana Grigorcea wären, im rumänischen Bukarest geboren, die heute eine Schweizer Schriftstellerin ist. In ihrem letzten, viel gelobten Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ schickt sie eine nach einem Banküberfall traumatisierte Bankangestellte zurück in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend, eben Bukarest – auch das eine unbedingte Empfehlung.

Jemanden noch nicht erwähnt? Ja! Ursula Priess, die die Schweiz verlassen musste und die lange als Heilpädagogin bei Kiel lebte, um eine Schriftstellerin zu werden; sie ist die Tochter des Schweizer Über-Ichs Max Frisch, der das Familienleben so hasste, das immer wieder auch hinschrieb, was einem als Tochter schon den Nerv rauben kann. Priess stellt ihren Roman „Hund und Hase“ vor.

Plus die zwei Stars aus der Schweiz, die man eingeladen hat, auch um Publikum zu ziehen, was ja völlig in Ordnung geht. Da wäre Adolf Muschg, der Ältere, der mit „Die japanische Tasche“ einen vergrübelten Historiker sein Leben vorbeiziehen lässt. Und für die Mitteljungen der sagenhafte Peter Stamm, der mit „Weit über das Land“ in diesem Jahr wiederum einen furiosen Schweizroman vorgelegt hat: Ein Mann, dem es an nichts zu mangeln scheint, steht eines Abends einfach auf und er verlässt wortlos seine Familie und verschwindet. In der Schweiz verschwinden? Einfach weg sein, abtauchen? Ja, das geht.Sehr gut sogar!

Eröffnung des Literatursommers mit dem Schriftsteller Adolf Muschg: Dienstag, 19. Juli, 19.30 Uhr, Stadtbücherei Neumünster; Anmeldung erforderlich bis Dienstag, 12. Juli

Das Literaturfest zum Literatursommer beginnt am Freitag, 5. August, 19 Uhr im Literaturhaus in Kiel