Trockene Rache

Von einem, der auszog, SS-Leute zu töten: Chaim Miller war nach dem Zweiten Weltkrieg Mitglied des jüdischen Rachekommandos Nakam

von SUSANNE KNAUL

Für Chaim Miller begann der Krieg erst, als er gerade zu Ende war. „Wir wollten so gern gegen Deutschland kämpfen“, sagt der heute 84-Jährige. Aber daraus wurde nichts. Erst im Herbst 1944 mobilisierte die britische Armee die jüdische Brigade, in der Miller diente. „Die Ausbildung dauerte so lange, dass wir genau am 8. Mai 1945 in Europa landeten.“ Stützpunkt war Norditalien, nahe der Grenze zu Österreich.

Die knapp fünfzig Kameraden in Millers Einheit blieben trotz Kriegsende zusammen. Der Auftrag lautete zunächst, jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa nach Italien zu schmuggeln, um sie von dort auf illegalem Weg weiter nach Palästina zu schicken. „Der zweite Teil unserer Aufgaben war, verschiedene besondere Figuren der nationalsozialistischen Partei, also SS-Leute, zu finden und zu versuchen, irgendwie Rache auszuüben. Und das haben wir hier und da auch getan.“

Miller spricht fließend Deutsch mit leichter österreichischer Mundart. In Wien geboren, kam er als 18-Jähriger nach Palästina und schloss sich der sozialistischen Kibbuzbewegung „Schomer HaZair“ an. Heute lebt er in dem Kibbuz Kfar Menachem, dreißig Kilometer südöstlich von Tel Aviv, wo er vormittags noch immer für ein paar Stunden in der Metallverarbeitungsfabrik arbeitet. Seine sehnigen Arme packen kräftig das Lenkrad eines kleinen Gabelstaplers. Miller hat kein Gramm zu viel am Körper und bewegt sich so wendig, dass man ihm sein Alter kaum glauben mag. Seine hellen blauen Augen strahlen freundlich, wenn er Kollegen begrüßt. Ganz bescheiden wohnt er allein in zwei kleinen Zimmern mit einer Miniküche, die gerade ausreicht, um einen Kaffee zu kochen. Die Ehefrau ist nach langer Krankheit im letzten Jahr gestorben. Von seiner Zeit als „Nokem“, als Rächer, spricht er ohne jedes Pathos.

Für ein paar Monate war die Einheit Millers in der italienischen Grenzstadt Tarvisio stationiert. „Dort haben wir uns mit diesen Sachen beschäftigt“, sagt Miller – und vermeidet Begriffe wie „Standgericht“ oder „Exekution“. Immer wieder versucht er, das Gespräch voranzutreiben und wegzulenken auf die Zeit und die Ereignisse, die danach kamen. „Es waren doch keine großen Heldentaten, auf die ich stolz sein könnte“, sagt er und erzählt dann doch.

Die Soldaten entfernten die jüdischen Abzeichen von ihren Uniformen und gaben sich als britische Militärpolizei aus. So erregten sie kein Aufsehen und verschafften sich freien Grenzübergang. Die britische Armee verschloss die Augen vor ihrem Tun, ebenso die italienischen und die österreichischen Behörden. Innerhalb von sechs Monaten „verschwanden“ knapp dreihundert ehemalige SS- und Gestapo-Angehörige.

Jugoslawische Partisanen, die in der Gegend gekämpft hatten, halfen den jüdischen Rächern bei der Suche nach den Kriegsverbrechern. Einsatzgebiet war der gesamte österreichische Süden, Klagenfurt, Lienz und Kärnten. Manchmal gaben NS-Symbole, auch Tätowierungen auf Pferden, Hinweise auf mögliche Naziverbrecher. „Sobald wir ausreichende Informationen hatten, beschloss man, diesen und diesen zu nehmen“, berichtet Miller.

In kleinen Gruppen kamen die Rächer zumeist nachts an die Tür eines Verdächtigen und erkundigten sich zunächst nach seiner Identität. „Wir fragten: Bist du der und der. Sagt er Ja, dann bist du eingeladen zum Verhör.“ Bei SS-Angehörigen prüften sie, ob es eine Tätowierung unter dem Arm gab.

Zurück auf italienischem Gebiet in einem alten Haus „irgendwo im Wald“, wurde der Verhaftete rund zwei Stunden über seine Aufgaben während des Krieges befragt. „Es gab solche, die auf alles Nein gesagt haben, und solche, die ihre Taten zugegeben haben und sicher waren, dass sie so davonkommen. Aber es hat keinem geholfen. Die sind dann an diesem Platz irgendwo geblieben.“

Im Hauptquartier der Rächer führten drei Männer das Kommando. Chaim Laskow, der später israelischer Stabschef wurde, Meir Sorea und Israel Karmi, später Chef der Militärpolizei. Die Gruppe stieß mit Hilfe der Partisanen schon zu Beginn ihrer Mission auf ein deutsches Ehepaar, das über enge Verbindungen zur SS und zur Gestapo verfügte. Auf Karmis Befehl fertigten die beiden eine Namensliste an, bevor sie selbst erschossen wurden.

„Es gab kein Gericht und man hat die Leute nicht gerade sanft behandelt.“ Miller erschoss die „Verurteilten“, weiß nicht mehr, wie viele es waren – „vielleicht zehn oder fünfzehn“. Andere Rächer bevorzugten die „trockene Methode“, meist Erwürgen mit bloßen Händen. Dabei entstanden keine Blutspuren, die man anschließend hätte aufwischen müssen. Eine Rechtfertigung für ihr Tun zogen die Rächer aus der Tatsache, dass es kein Rechtssystem gab, das das Unrecht in angemessenem Umfang hätte bestrafen können.

1940, ein Jahr nach seiner Ankunft in Palästina, hatte Miller die letzte Nachricht seiner Eltern erreicht. Sie waren „nach Osten“ deportiert worden und konnten mit Hilfe des Roten Kreuzes noch ein paar Briefe an ihren Sohn schicken, bevor sie umkamen. Ob ihm sein Auftrag in Tarvisio Genugtuung verschaffte? „Heute möchte ich sagen: Nu. Aber damals war das anders. Alles war so neu und frisch. Alles, was wir gehört haben, von den Leuten, die über die Grenze gekommen sind. Damals habe ich noch nicht gewusst, was mit meiner Mutter passiert ist.“

Für den 24-Jährigen war es ein Auftrag, den er zu erledigen hatte. „Alles, was man machen musste, hat man gemacht.“ Bei jeder Hinrichtung waren ein Offizier und zwei Henker anwesend, manchmal noch ein oder zwei Wachleute. Es sei „nicht sonderlich schwierig“ für ihn gewesen, schließlich hatte er zwei Jahre beim Palmach hinter sich, dem Vorläufer der israelischen Armee. Die als Kriegsverbrecher Überführten mussten sich ihr Grab selbst graben, „einer hat um Entschuldigung gebeten“, ein anderer sei „ganz verwirrt“ gewesen, erinnert sich Miller ohne erkennbare Gefühlsregung. „Im Namen des jüdischen Volkes zum Tode verurteilt“, waren dann die letzten Worte, die die SS-Leute zu hören bekamen.

Unabhängig von Millers Einheit waren andere jüdische Gruppen und auch Einzelkämpfer damit beschäftigt, die Kriegsverbrechen zum Teil auf eigene Faust zu rächen. Abba Kovner hatte seit 1942 als Partisan gegen die Nazis gekämpft und jüdische Untergrundgruppen mit dem Satz „Geht nicht wie die Schafe zur Schlachtbank“ mobilisiert. Noch kurz vor Kriegsende gründete er die Nakam und rief im März 1945 zur Rache auf, die „dieselbe Dimension wie der Nazi-Massenmord“ haben sollte: sechs Millionen für sechs Millionen. Der ursprüngliche Plan, das Trinkwasser der Deutschen zu vergiften, scheiterte, weil das Boot, das das Gift von Palästina aus nach Europa liefern sollte, abgefangen wurde. Die eigene Mannschaft warf die Giftfässer über Bord.

Mehrere Vergiftungsversuche fanden später in viel kleinerem Ausmaß statt. In der Nürnberger Haftanstalt, in der NS-Verbrecher einsaßen, vergifteten Kovners Leute das Brot der Häftlinge, ohne jedoch jemanden zu töten. „Schade eigentlich“, kommentiert Miller, der 1945 kurz mit der Gruppe Kovners in Kontakt kam. Von Paris aus organisierte Kovner damals vor allem Sabotageaktionen, Sprengungen von Brücken und Straßen in Deutschland. „Ich wurde zu ihm geschickt, weil ich beim Palmach im Umgang mit Sprengstoff ausgebildet worden war“, erzählt Miller, der jedoch unverrichteter Dinge zu seiner Einheit zurückkehrte. „Diese Leute wollten selbstständig sein und brauchten von uns keine Hilfe.“

Im Gegensatz zu Millers Einheit, die in Palästina mobilisiert worden war, hatten Kovners Leute den Krieg in Europa erlebt. „Diese Gruppe kam aus ganz anderen Bedingungen als wir“, sagt Miller und zeigt Verständnis für ihren Versuch, möglichst viele Deutsche, darunter auch Unschuldige, zu ermorden. „Sie kamen aus Litauen und Polen und hatten alles gesehen, was dort passierte, während wir zur selben Zeit vielleicht nicht fantastisch lebten, aber doch unter normalen Bedingungen.“

Über fünfzig Jahre dauerte es, bevor der 1. israelische Fernsehkanal das Thema der Vergeltung für den Holocaust zum ersten Mal umfassend an die Öffentlichkeit brachte. „Die nicht vergessen konnten“, lautet der Titel einer mehrteiligen Dokumentation des israelischen Filmemachers Jarin Kimor. „Meine ganze Familie ist vernichtet worden“, sagt Israel Karmi, einer der Kommandanten in Tarvisio, in der Dokumentation. „Es gibt Dinge, die kein Recht, kein Gericht regeln kann. Ich war der Richter.“

Außer Miller findet sich niemand mehr aus der Gruppe, der noch einmal bereit wäre, über die Ereignisse in Tarvisio zu reden. Der 84-Jährige wird manchmal eingeladen, um vor Schülergruppen zu berichten. „Letzte Woche war ein Abiturient bei mir“, sagt er. Lischai Weisgal-Lensky geht in Kfar Menachem in die Schule und stieß mit Hilfe eines Lehrers auf die Geschichte des ehemaligen Rächers. Drei Stunden lang interviewte er Miller vor laufender Videokamera. „Für mich stellt sich die Frage nicht, ob es gut oder schlecht war, wie er damals gehandelt hat“, meint der 18-Jährige. „Die Hinrichtungen fanden ohne Prozess statt. Das ist problematisch. Ich weiß nicht, ob er ein Held ist. Er selbst sieht sich sicher nicht so.“

SUSANNE KNAUL ist Israel-Korrespondentin der taz