Sachhaltige Argumentation statt Rhetorik

Dialektik der Expansion An Wolfgang Reinhards monumentaler Geschichte des europäischen Kolonialismus wird niemand mehr vorbeikommen, der sich informiert und nicht allein moralisierend zu Fragen des Kolonialismus äußern will

Die Aufnahme aus Brasilien im 19. Jahrhundert zeigt eine weiße Frau in einer von zwei schwarzen Männern getragenen Sänfte Foto: akg-images

von Micha Brumlik

Noch immer gilt der keineswegs ganz neue „postcolonial approach“ nicht nur als letzter Schrei in theoretischen Debatten, sondern auch als Ausweis besonders kritischen Denkens – eines Denkens, das sich der Probleme der Globalisierung und ihres historischen Hintergrundes in besonderem Maße bewusst ist. Dass die Berufung auf postkoloniales Denken indes öfter Rhetorik denn sachhaltige Argumentation darstellt, zeigt die kürzlich erschienene Monografie des zuletzt in Freiburg im Breisgau lehrenden Historikers Wolfgang Reinhard, der schon vor Jahren eine umfassende Geschichte der Staatsgewalt publiziert hat.

Nun legt er – nach mehreren kleinen Vorstudien und Detailuntersuchungen – nicht weniger als eine in jeder Hinsicht umfassende Geschichte des Kolonialismus, genauer: der Eroberung des Erdballs durch europäische Mächte vor. Sein Band „Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015“ wird auf Jahre hinaus seinesgleichen suchen und für Jahrzehnte ein nur schwer überholbares Standardwerk bleiben. Der insgesamt mehr als 1.630 – eng auf dünnem Papier gedruckte – Seiten starke Band verbindet in aller Regel genaue Darstellungen historischer Sachverhalte mit einem souveränen, auktorialen Sprachstil und einem alleine 390 Seiten langen Literaturverzeichnis, an dem in Zukunft niemand, der sich zu Fragen des Kolonialismus äußern will, vorbeikommt.

Zumal mit Blick auf gegenwärtige Entwicklungen müssen Reinhards schon im ersten Kapitel geschriebenen Sätze aufmerken lassen: „Europa lässt sich weniger denn je territorial definieren, sondern nur prozessual als mentales, dabei aber durchaus reales Konstrukt mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten. Von Anfang an war Europa mit dem Prozess der eigenen Expansion identisch.“

In diesem Prozess spielten die Flächen der Meere – des Mittelmeers, des Atlantiks und des Indischen Ozeans – von allem Anfang an eine entscheidende Rolle. Reinhard weist nach, dass der Anfang dieser Expansion ein Geschehen war, das auf unterschiedlichen, innerlich durchaus nicht zusammenhängenden Faktoren beruhte: der Nachfrage nach Zucker und Gewürzen, der Entwicklung nautischer Geräte und dem Studium des Klimas, vor allem der Winde sowie dem Entwurf und Bau von Segelschiffen, die es so in der Antike nicht gab.

Erst das Zusammenwirken dieser Faktoren ermöglichte seit dem frühen fünfzehnten Jahrhundert – als nicht etwa die Spanier, sondern die Portugiesen entlang der afrikanischen Küste in den Indischen Ozean segelten – jene Eroberungen mitsamt ihren Gräueln, an die wir heute vor allem denken, wenn wir von „Kolonialismus“ sprechen. Dabei geht es nicht nur um die durch Waffengewalt und aus Europa eingeschleppten Infektionskrankheiten umgekommenen Millionen von Indios in den spanischen Vizekönigreichen des südlichen Amerika, sondern auch um die Geschichte des Nordatlantiks.

Er wird in der postkolonialen Geschichtsschreibung als „Black Atlantic“ bezeichnet, weil dieses Meer die Bedingung der Möglichkeit der millionenfachen Versklavung schwarzer Afrikaner war. Reinhard referiert Studien, die von 12,6 Millionen über den Atlantik, 3,6 Millionen durch die Sahara, 2,3 Millionen über den Indischen Ozean ausgehen, aber eben auch von 18,5 Millionen sonst verschleppter Schwarzer, also von insgesamt 37 Millionen Menschen in den Jahren 1500 bis 1900 ausgehen.

Pointiert weist Reinhard, ohne Adorno und Horkheimer zu nennen, auf die zumal im Kolonialismus waltende „Dia­lektik der Aufklärung“ hin: „Die Versklavung afrikanischer Plantagenarbeiter kann paradoxerweise sogar als Frucht des kulturell einzigartigen Freiheitswillens der Europäer betrachtet werden, und zwar nicht nur, weil dieser Freiheitswillen der eigenen Versklavung im Wege stand. Vielmehr gehörte zur europäischen Freiheit die uneingeschränkte individuelle Verfügung über das Eigentum …“

Wolfgang Reinhards Band „Die Unter­werfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015“ wird auf Jahre hinaus seinesgleichen suchen und für Jahrzehnte ein nur schwer überholbares Standardwerk bleiben

Als eine wesentliche Ursache des Sklavenhandels beobachtet Reinhard, dass dieser Freiheits- und Eigentumskultur noch keine Gleichheitskultur entsprach. Entsprechend gelingt ihm der Nachweis, dass nicht der Rassismus die Ursache des Sklavenhandels, sondern umgekehrt der Sklavenhandel die Ursache des Rassismus war – nämlich so, dass dem vereinzelten frühen Protest gegen diese unmenschlichen Praktiken vermeintliche „Argumente“ entgegengesetzt werden sollten. Anders als andere Darstellungen übergeht Reinhard in diesem Zusammenhang weder die islamische Welt noch den Umstand, dass das Fangen und Verkaufen von Sklaven, Männern und Frauen, eine akzeptierte, gleichsam „normale“ Praxis vieler tribaler Kulturen im westlichen Afrika war. Bei alledem ist erst in den letzten Jahren ins Bewusstsein gedrungen, dass die dritte, die politische Moderne beflügelnde Revolution nach der Nordamerikanischen Revolution 1776 und der Französischen Revolution 1789 die Revolution der Sklaven auf Haiti im Jahre 1793 war.

Wer heute von „Europa“ spricht, bezieht sich dabei in aller Regel auf das westliche Europa – hält man sich jedoch an die geografisch-politische Struktur des Kontinents insgesamt, so ist nicht zu übersehen, dass eben auch Russland, das im Laufe von Jahrhunderten Sibirien und die Kaukasusregion eroberte, eine expandierende Kolonialmacht war. Mehr noch: auch die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich selbst einer antikolonialen Revolution verdankten, waren eine Kolonialmacht im klassischen Sinne des Wortes – die Expansion von der Ostküste nach Westen, davon zeugen nicht nur die „Frontier“- und die oftmals genozidalen Indianerkriege, sondern vor allem der klassische Kolonialkrieg gegen die 1902 von den Spaniern befreite philippinische Republik, die erst 1946 ganz in die Unabhängigkeit entlassen wurde.

Reinhards weitere Überlegungen über die Landnahme der Europäer auf dem afrikanischen Kontinent überzeugen zwar durch ihre Dokumentation und Präzision mit Blick auf Grenzziehungen, Bodenschätze und Erfindung von „Stämmen“, irritieren aber, weil die vom Deutschen Reich 1903 in Südwestafrika verübten genozidalen Verbrechen doch sehr vorsichtig angedeutet werden: „Auch wenn es sich dabei überwiegend um sogenannte Kollateralschäden brutaler Kriegsführung und Unterdrückung handelte, so lassen sich doch vorübergehend völkermörderische Absichten der deutschen Führung durchaus nachweisen.“ Ähnlich vorsichtig äußert sich Reinhard über den inzwischen unbezweifelbaren Genozid an den Einwohnern des Kongo, seinerzeit eine Art Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II.

Im dritten, abschließenden Teil der wahrhaft enzyklopädischen Darstellung geht es um die Epoche der Weltkriege, die „orientalische Frage“ und den Niedergang des Osmanischen Reiches, um den Zweiten Weltkrieg im Fernen Osten sowie – darauf folgend – um die Unabhängigkeit Indiens; Darstellungen und Analysen, die umfassende, ganze Monografien ersetzen.

In diesem Zusammenhang fallen Beobachtungen zum Zionismus und zur Gründung des Staates Israel auf, die den Autor auch im Inhaltsverzeichnis nach deutlichen Formulierungen suchen lassen: „Israel – die letzte Siedlerkolonie des Westens?“ Das Fragezeichen signalisiert, dass der Autor das Urteil über diese Annahme dem Leser überlassen will. Für einen Historiker ungewöhnlich, plädiert er, was die Lösung des Israel-PalästinaKonflikts angeht, für eine seiner Meinung nach zu Unrecht vergessene „Kultur des Vergessens.“ „Was wäre“ – so fragt Reinhard –, „wenn junge Araber die Nakba … und junge Juden die Shoah …hinter sich ließen und eine gemeinsame Zukunft ihrer Vergangenheiten suchten?“

1897 veröffentliche Illustration eines englischen Sklavenschiffs von 1850 Foto: Craig McCausland/getty images

Damit leitet Reinhard zu seinen abschließenden, systematischen Überlegungen über, Überlegungen, die durch seinen detaillierten Nachweis aller einschlägigen Entwicklungen zu einer Kritik des postkolonialen Denkens in seiner naiven, rein moralistischen Form führen. Reinhard zieht eine Bilanz, die in der Behauptung besteht, dass es aus theoretischen wie empirischen Gründen unmöglich sei, nachprüfbare Aussagen darüber zu machen, „ob der europäische Kolonialismus für die Welt als Ganzes oder auch nur einen Teil von ihr gut oder schlecht gewesen ist“.

Mehr noch, geht er doch – wohl wissend, dass ihm das als zynisch ausgelegt werden kann – so weit anzudeuten, dass sogar am transatlantischen Sklavenhandel „aus nüchterner wirtschafts- und sozialhistorischer Perspektive mögliche positive Gesichtspunkte ausgemacht“ werden könnten. Nicht nur das: Entgegen einer naiven Sicht auf diese Geschichte als einer Geschichte von Opfern und Tätern beharrt er darauf, dass gerade diese Perspektive rassistisch sei: würden doch die unterjochten Völker damit als Subjekte ihrer Geschichte negiert, mehr noch: „Als handlungskompetente Individuen waren die Kolonisierten keine passiven Objekte der Geschichte und hilflosen Opfer der Kolonialherren.“ Lasse sich doch mit guten Gründen behaupten „dass westliche Kolonialherrschaft auf der Kollaboration von Kolonisierten beruht und anders überhaupt nicht möglich ist“.

Vermutlich liegt, wer sich hier an Hannah Arendts umstrittener Polemik gegen die Judenräte des NS-Systems erinnert fühlt, nicht ganz falsch. Der so festgestellten Kollaboration entspreche die Aneignung der Kategorien, der Werte und Prinzipien des westlichen Denkens durch die Kolonisierten oder doch wenigstens ihrer herrschenden Schichten: „Neue wirtschaftliche Chancen wurden genutzt, Frauen fanden neue Rollen …, sogar eine erfolgreiche antikoloniale Bewegung und eine kritische postkoloniale Denkschule konnten entstehen.“

Derlei Behauptungen müssten, wären sie nur so dahergesagt, umstandslos und zu Recht als eurozentrisch, wenn nicht gar rassistisch bezeichnet werden. Indes: Der so bilanzierende Autor hat seine Argumente für derlei Urteile detailliert und umfassend dargelegt; der von ihm selbst beobachtete Übergang der Kolonialgeschichte vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis wird sich daran zu bewähren haben. Auf jeden Fall komme es darauf an, das problematische europäische Erbe reflexiv „zu bewältigen“, lasse sich doch auf Geschichte und ihren Missbrauch nur in genauer Kenntnis, die jener der „Geschichtspolitiker“ überlegen ist, angemessen reagieren.

Wolfgang Reinhard: „Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015“. C.H. Beck, München 2016, 1.648 Seiten, 58 Euro