Hamburgs Stadtschreiberin und eine Frau ohne Vergangenheit: Schreiben unter Geistern

Hamburgs Stadtschreiberin Doris Konradi wird an drei Orten arbeiten: dem Bergedorfer Schloss, dem Ohnsorg-Theater und der Kulturwerkstatt in Harburg.

Der Computer ist eigentlich pfui, und im Hintergrund äugt mahnend der Don-Quichote-Übersetzer Dietrich Soltau: Doris Konradi im Bergedorfer Schloss. Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | In der Stille wird das Museum laut. Das hört ein Museumsleiter vielleicht nicht gern, aber wir reden jetzt mal von der Realität. Und da ist es eben so, dass täglich fünf, sechs Besucher vorbeikommen bei Doris Konradi. Die sitzt nicht irgendwo: Mitten im Bergedorfer Schloss arbeitet Hamburgs Stadtschreiberin, genauer: im Soltau-Zimmer – als lebender Teil der Ausstellung.

Insgesamt drei Monate lang, noch bis Ende Oktober, bekleidet die 55-jährige Kölnerin dieses Amt, das im Mittelalter eins der mächtigsten war, und gar den Bürgermeister in Politik- und Rechtsfragen beriet. Hochdotiert war es außerdem. Das ist heute anders: Stadtschreiber sind Stipendiaten mit eher kreativ-seismografischen Talenten. Sie kommen von außen, haben den Blick des Fremden, und genau das motiviert etliche Städte, Vereine und Sponsoren, das Amt regelmäßig auszuschreiben.

Bloß keine idyllische Abgehobenheit

Die Geschichte des Hamburger Stadtschreiber-Stipendium begann 2010 mit einem Literaturwettbewerb des Fördervereins Kulturelle Initiativen. 2013 wurde daraus dann ein Stipendium im Bergedorfer Schloss: Einen Monat lang durfte ein Stadtschreiber dort im Turmzimmer sitzen, finanziert teils von der Hamburger Kulturbehörde, teils durch Sponsoren.

Das war idyllisch und schön, aber eben nur eine Facette. Und damit der Stadtschreiber nicht abgehobener Schloss-Schreiber blieb, erweiterte man das jährlich vergebene Stipendium zuletzt auf drei Monate an drei Orten: zunächst, wie bisher, das Schloss. Es folgt eine Station als „Mittenmang-Schreiber“ im Foyer des Ohnsorg-Theaters. Zum Schluss geht es als „Binnenhafen-Schreiber“ in die Kulturwerkstatt im Stadtteil Harburg, in den Hamburger Süden also.

Aus der Region kommen die Eltern von Doris Konradi, die sich unter 130 Bewerbern durchsetzte, und das, der Ausschreibung gemäß, mit einem Essay über Fassaden. Fassade stellt sie selbst keine zur Schau, spricht offen lächelnd über ihre Arbeit. Erwähnt auch, freundlich und gelassen, dass in ihrer Wohnung Köln-Porz, wo sie mit Mann und Töchtern wohnt, oft die Flugzeuge übers Dach dröhnen. Und dass es im Bergedorfer Turmzimmer manchmal eng wird, weil man die Fenster nicht öffnen darf.

In Hamburg möchte sie unter anderem ihrer Familiengeschichte nachspüren: Den Großeltern, die aus Polen nach Hamburg einwanderten, genauer: Wilhelmsburg, um in einer Ölfabrik zu arbeiten. Als Kind hat die Enkelin sie manchmal besucht. Das ist lange her, geblieben sind Puzzleteile: Worte, Mythen, Geschichten, die sie jetzt mit der Realität abgleichen möchte.

Ein Beispiel? „Ja, es hieß immer, die Eltern hätten sich zum Tanz immer bei ‚Stüben‘ getroffen“, sagt sie. Das Lokal gebe es heute nicht mehr, den Ort vielleicht schon. Oder die Geschichte vom Vater, der sich als Kind während des Zweiten Weltkriegs im finsteren Wilhelmsburger Bunker verirrt habe: „Er muss während des Bomben­alarms eingeschlafen sein“, vermutet Konradi, „und wieder aufgewacht, als alle schon weg waren.“ Ein Trauma muss das gewesen sein, durchs viele Erzählen irgendwann zur Anekdote geworden, vermeintlich verarbeitet und doch stets präsent. „Es ist interessant, wie sich so eine Geschichte vom realen Erlebnis entfernt“, sagt Konradi.

Eine Autodidaktin, im Großen und Ganzen

Oder wie es zu Kunst wird, zu einer den Schmerz umhüllenden Gattung: Die Literatur ist Konradis Metier, das sie, von ein paar Drehbuch-Kursen abgesehen, autodidaktisch gelernt hat – nach angefangenem Studium der Germanistik- und Romanistik sowie einem abgeschlossenen der Volkswirtschaftslehre. Inzwischen kann Konradi zwei Romane und einen Erzählungsband vorweisen, bekam Stipendien der Kunststiftung NRW und der schleswig-holsteinischen Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstförderer (Gedok).

Ihre Bücher handelten ausdrücklich vom Vergangenen: Der Roman „Fehlt denn jemand“ (2005) von einem NS-Großvater, „Frauen und Söhne“ (2007) von der früheren Liebesbeziehung einer Mutter, die das heutige Verhältnis zu ihrem Sohn prägt. Nebenher erarbeitet Konradi mit anderen Künstlern eine Performance über eine Frau ohne Vergangenheit.

Und jetzt, auch im Schreiben: „Ich will eine Frau ohne Vergangenheit erfinden“, sagt Konradi. Eine, die neu anfängt, aus dem Früher weder Leid noch Stolz bezieht. Ein bisschen wie Konradi selbst, geworfen in eine Umgebung, wo sie niemand kennt. „Mich interessiert, wie jemand ohne vordefinierte Identität die Gegenwart wahrnimmt. Wie ein Kind, aber nicht mit Kinderblick.“ „Dass ich die Welt durchs Schreiben besser verstehe, behaupte ich nicht“, sagt Konradi. Wohl aber kann sie reale Eindrücke zu einem fiktiven Mosaik zusammenfügen, per Hand oder Computer, je nach Situation.

Im Zimmer im Bergedorfer Schloss von 1705 steht zum Beispiel kein Computer, da muss es der Papierbogen sein. Das ist ungewohnt, anderseits: „Es fällt mir leichter, einen handgeschriebenen Text umzubauen. Das ist noch so offen und variabel, man kann durchstreichen und drüberschreiben“, sagt Konradi. „Wenn der Text erst mal im Computer ist, bekommt er durch das gedruckte Schriftbild eine Autorität. Wobei das ja eigentlich Quatsch ist“, sagt sie und lacht. „Man kann ja löschen.“

Aber es geht hier auch um Intuition. Die bestimmt, ob eine Geschichte von Hand oder per Computer entsteht. „Das entscheide ich gar nicht selbst“, sagt sie. „Ich gehe danach, was sich besser anfühlt.“ Und dann gibt es diese Momente, „wo ich im Café sitze, plötzlich einen Satz habe und dann sofort die ganze Geschichte aufschreibe“, erzählt sie. „Das ist wunderbar, passiert aber nicht immer.“

An anderen Geschichten arbeitet sie sich lange ab, sucht nach dem richtigen Stoff, Ton, Detail. „Die Protagonistin der Erzählung ,Die Hühneresserin' war für mich lange eine gestandene Frau in den Vierzigern mit sechs Kindern“, sagt sie. „Aber es funktionierte einfach nicht. Irgendwann habe ich gemerkt: Das ist ein junges Mädchen.“

Und wie fühlt es sich an, in diesem geschichtsbeladenen Schloss zu schreiben, wo ihr Dietrich Soltau, 1827 verstorbener Don-Quichote-Übersetzer, vom Porträt über die Schulter schaut – schüchtert das nicht ein? Nein, Doris Konradi sieht es ganz gelassen. Sie ist froh, dass sie in den drei Monaten nicht unbedingt einen Hamburg-Text schreiben muss – oder überhaupt einen: Die Lesungen zum Schluss ihrer Amtszeit darf sie auch mit früheren Texten bestücken, und für Eindrücke ihrer täglichen Streifzüge hat sie ihren Blog: hamburger-gast.de.

Und wenn ihr mal nichts einfällt und auch kein Besucher vorbeikommt? Dann läuft sie im Haus herum wie ein Kind, das auf dem Dachboden stöbert, gerät in eine Märchenwelt. „Als ich einmal kurz vor Museumsschließung in die nachgebaute Bauernkate ging und es aus dem Alkoven plötzlich schnarchte, habe ich mich unglaublich erschrocken“, sagt sie und lacht. Und wenn sie die Trachtenfiguren sieht, stellt sie sich vor, da sprängen Menschen herum, tanzten Geister und Ahnen.

Schreiben nur über andere

„Es stimmt schon: Wenn man allein ist, wird das Museum lebendig“, sagt Doris Konradi. Trotzdem, der Museumschef braucht sich nicht zu sorgen. Das sagt ja nur eine dieser verrückten KünstlerInnnen, die mehr in der Fantasie hausen als in der Realität. Über ihr eigenes Leben zum Beispiel würde sie nie schreiben, sagt sie. „Das fände ich nicht spannend genug. Da erfinde ich lieber und frage mich: Was wäre, wenn?“

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