HAUSBESUCH Ein Campingplatz an der Ostsee: Man kennt sich, teilt sich die Wäscheleine und genießt die Ruhe zwischen Wald und Meer. Von Mai bis September leben Gudrun und Karl Kähler im Wohnwagen
: Großes Glück auf kleinem Raum

Sieht aus wie ein Holzhaus, ist aber ein Wohnwagen und der ganze Stolz von Ehepaar Kähler

TEXT UND FOTOS VON Kersten Augustin

Zu Besuch bei Gudrun (76) und Karl Kähler (74) auf dem Campingplatz Graal-Müritz an der Ostsee.

Draußen:Auf dem Campingplatz wohnt das Ehepaar von Mai bis September. „Das ist unser kleines Paradies“, sagt sie, „klein und überschaubar.“ Wenn die Leute an ihrem Garten vorbeispazierten, blieben sie stehen, sagt Gudrun stolz. Im Winter wohnen sie in ihrem Haus in Gelbensande, einer Gemeinde südlich von Graal-Müritz.

Drinnen? Ist nicht so wichtig, wenn es geht, sitzen sie draußen. Man erkennt nicht, dass hier ein Wohnwagen steht. Kählers haben ihn Jahr für Jahr erweitert und umgebaut, von außen und innen mit Holz verkleidet, einen Wintergarten und eine Terrasse gebaut. Aus dem Wohnwagen ist ein 40 Quadratmeter großer Bungalow geworden: zwei Zimmer, Küche, Bad.

Der Campingplatz: Feiert bald seinen 100. Geburtstag, 1921 wurde er von den Wandervögeln Rostock gegründet. In der DDR hatte der Platz bis zu 5.000 Gäste gleichzeitig, nach der Wende wurde er privatisiert. Der Besitzer ist ein ­Bremer, Kählers mögen ihn, „ist ja auch ein Norddeutscher“, sagt er. 24 Hekt­ar ist der Platz groß, die Straßen heißen Luchsweg, Wiesenweg, Wildschweinweg. Heute liegt man nicht mehr dicht an dicht im Zelt, „die Ansprüche sind gestiegen“, sagt der Eigentümer.

Urlaub: Seit 2014 ist Mecklenburg-Vorpommern das beliebteste Reiseziel der Deutschen. Der Platz ist im Sommer ausgebucht: zur Hälfte Urlauber, zur anderen Hälfte Dauercamper. Kählers machen keinen Urlaub, sie wohnen hier. Nach der Wende sind sie nach Mallorca, Frankreich und Österreich gefahren. Jetzt bleiben sie an der Ostsee, da ist es nicht so heiß.

Der Strand: Das Meer ist nur wenige Schritte entfernt, aber schwimmen gehen sie nicht mehr so oft. In diesem Jahr waren sie kaum dort, das Wetter war nicht gut. Manchmal geht sie noch, allein. Dann nimmt sie ihre Luftmatratze mit.

Was gefällt ihnen hier? „Die Ordnung“, sagt er. „Die Ruhe“, sagt sie. Sie mag die Nachbarschaft mit anderen Dauercampern, man hilft sich gegenseitig, teilt sich eine Wäscheleine. Nur mit einem Nachbarn gibt es Streit, der hat sich beschwert, weil ein anderer mehr als 42 Quadratmeter bebaute Fläche hat, das ist verboten. „Das ist nur Neid“, meinen Kählers.

Heute: halbe Zelte am Strand

Familie: Sie haben 15 Enkel und neun Kinder, vier aus den ersten Ehen, drei zusammen. Und zwei, nun ja, die hat er „außerehelich produziert“. Kurz nach der Wende standen sie bei ihm vor der Tür und wollten ihren Vater kennenlernen. Jetzt gehören sie zur Familie. Als die Enkel noch klein waren, kamen sie oft auf den Campingplatz. Nebenan ist eine junge Familie eingezogen, jetzt sagt wieder jemand „Omi“.

Er: In der DDR war er zwei Jahre im Gefängnis, aber nicht wegen der Politik. „Karlchen war immer gut im organisieren“, sagt sie. Für seine Kfz-Werkstatt hat er aus Sachsen Ersatzteile besorgt und mit Räucheraal bezahlt. „Schiebung nannte man das wohl“, sagt er. Als er im Gefängnis saß, ist sein Sohn mit dem Schlauchboot über die Ostsee in den Westen gefahren, mit einem Motor seines Vaters, 12 PS. „Die waren schneller als die Fähre heute nach Dänemark“, sagt er stolz. Wenn er erzählt, schaut sie ihn an und lächelt. „Mein Karlchen“, sagt sie.

Sie: Sie arbeitete als Grundschullehrerin. Als er seine Werkstatt verlor, musste sie für ihn sorgen. Seit sechs Jahren hat sie Leukämie, aber die Ärztin sagt, sie sehe gut aus. „Das liegt an der Luft hier“, sagt sie, die Mischung aus Wald und Meer. „Nein, das macht meine Pflege“, sagt er und grinst.

Kennenlernen: Sie kannten sich schon von der Feuerwehr, er war Wehrleiter, sie leitete die Frauengruppe. Dann brauchte sie eine Garage, und er war ja gut im Organisieren: „Karlchen hilft immer“, hieß es damals, das gilt noch immer. Zwei Jahre später wurde geheiratet, für beide war es die zweite Ehe. Wie die Hochzeit war? „Schön“, sagt sie. „Schmerzlos“, sagt er: „Es war Nägel mit Köpfen.“

Die Wende: Als die Mauer fiel, setzte er sich ins Auto und fuhr los. Sie nicht, sie wollte ihre Schüler nicht alleinlassen. „Da sitzen dreißig Kinder und warten auf ihre Lehrerin.“ Er fuhr Richtung Berlin, aber der Stau war zu lang, also fuhr er in den Westen. Morgens stand er in Wietzendorf, Niedersachsen, vor dem Haus seines Sohns, der über die Ostsee geflohen war, und klingelte.

Einst: Zelt an Zelt unter Bäumen

Nach der Wende: Die Leute kauften neue Autos und Ersatzteile aus dem Westen, statt die Autos in seine Werkstatt zu bringen. Er musste seine Werkstatt verkaufen. Für seine Drehbank bekam er 600 Mark, 60.000 Ostmark habe die mal gekostet: „Der Vollstrecker war ein Schweinehund, ein Ganove.“ Der habe die Sachen auf dem Hof schwarz verkauft, glaubt er. „Das weißt du nicht“, sagt sie. Um über die Runden zu kommen, mussten sie sein Elternhaus verkaufen. Er arbeitete dann als Wachmann im Rostocker Theater und konnte viele Stücke sehen, das war schön. Vermissen sie manchmal die DDR? „Nein“, sagt sie. „Betriebsmäßig schon, sonst nicht“, sagt er.

Fische: „Wir Mecklenburger sind Fischköppe“, sagt er, ruhig und zurückhaltend. Er isst aber lieber Gulasch als Aal. „Ich bin Krebs, ich nehme die Menschen gern in den Arm“, sagt sie.

Die Wahlen: Sie liest ihm aus der Ostsee-Zeitung vor: „Der Sellering liegt wieder vorn“, sagt sie. Kählers werden ihn wieder wählen. Sie gehen nicht nach Parteien, sondern nach Personen. Deswegen gefällt ihnen die AfD nicht. „Deutschland muss doch weltoffen bleiben“, sagt sie.

Wie finden sie Merkel? Er findet, dass man den Flüchtlingen an der Grenze die Burka abnehmen muss. Und: „Merkel war zu großzügig“, sagt er. „Nein,“ sagt sie. Zu Hause in Gelbensande ist jetzt auch ein Flüchtlingsheim. „Uns haben sie nicht gestört“, sagt sie, und dass sie nach dem Krieg selbst fliehen musste. Ihre Mutter zog ihr die Sommer- und die Winterklamotten übereinander an, ihre Puppe Gretel musste sie zurücklassen. Als „Lumpenpack“ wurden sie beschimpft. Schaffen wir das? „Ja“, sagt sie. „Wer weiß“, sagt er.